Mögliches EU-Referendum in Großbritannien:Cameron geht volles Risiko

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Treten die Briten aus der EU aus? Ihr Premier David Cameron will darüber abstimmen lassen, eine Mehrheit wäre heute dafür. Der Premierminister will sein Volk zwar vom Gegenteil überzeugen - aber nur, wenn Brüssel ihm große Zugeständnisse macht. Er erpresst Merkel und Hollande, um seine eigene Wiederwahl zu retten.

Von Michael König

Ich kann nicht anders. Das war die Botschaft, die David Cameron an das kontinentale Europa schickte, als er um 8:07 Uhr Ortszeit in London das Wort ergriff. Die Unzufriedenheit der Bürger mit der Europäischen Union habe ein Allzeit-Hoch erreicht, warnte der britische Premier in seiner lange erwarteten Europa-Rede. Die demokratische Legitimierung sei "hauchdünn", die Menschen würden sich über die vielen Vorschriften aus Brüssel nur mehr ärgern.

Die Konsequenz: Cameron will sein Volk über den Verbleib Großbritanniens in der EU abstimmen lassen. "Es ist Zeit, dass wir diese Frage zu Großbritannien und Europa lösen." Deshalb strebe er ein "In-out"-Referendum an, mit nur zwei Antwortmöglichkeiten. Ja oder nein, rein oder raus, EU oder Nicht-EU. Nach der Unterhauswahl 2015, spätestens Ende 2017, soll es so weit sein. Das klingt ganz einfach, ist aber bei näherem Hinsehen ein hochriskantes Spiel, bei dem alle Seiten verlieren können.

Noch nie ist ein Staat aus der EU ausgetreten, obwohl das gemäß Artikel 50 des Vertrags von Lissabon möglich ist. Großbritanniens Schritt wäre ein Novum, die Folgen sind kaum absehbar. Experten gehen davon aus, dass das Land politisch und wirtschaftlich schweren Schaden nehmen würde.

Unter dem Druck der eigenen Partei

Cameron weiß jedoch um die Stimmung im eigenen Land: In einer aktuellen Yougov-Umfrage stimmen etwa 40 Prozent für den Austritt, 37 Prozent sind dagegen. Euroskeptiker wie die UK Independence Party (UKIP) erhalten immer mehr Zulauf. Ihr Chef Nigel Farage sagte nach der Rede, der wahre Job seiner Partei beginne nun erst, nämlich das Volk vom EU-Austritt zu überzeugen. Er nehme Cameron ernst, "aber ich denke, dass er das nur tut, um UKIP abzuschütteln".

Farage und seine Partei werden für Cameron eine immer größere Bedrohung, weil sie den konservativen Tories die Stimmen abgraben. Auch Camerons eigene Leute warteten deshalb gespannt auf die Rede ihres Chefs, die immer wieder angekündigt und verschoben worden war. Erst nach langen Verhandlungen erklärte sich der Premier bereit, einen Eklat zu vermeiden und seine Rede nicht am Dienstag während der Berliner Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen des deutsch-französischen Élysée-Vertrages zu halten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident François Hollande hatten am Vortag noch einmal bekräftigt, Europa und die Euro-Zone sollten enger zusammenarbeiten. Sie wussten ja, was tags darauf kommen würde - die Forderung nach dem kompletten Gegenteil.

Tatsächlich malte der britische Premier in seiner 38-minütigen Rede ein düsteres Bild der EU: Die Union sei von dem Ziel, den Wohlstand zu mehren, abgekommen. "Unnötige Regeln und Regularien" würden nicht nur die Menschen verärgern, sondern auch der Wirtschaft schaden. Im Volk wachse der Frust. Wenn es so weitergehe, entferne sich die EU weiter als je zuvor von ihren Bürgern.

Dennoch, so versprach der Premier, werde er "mit vollem Herzen" für Europa werben. Allerdings unter einigen Voraussetzungen, auf die man sich doch bis zur Volksabstimmung unter den EU-Partnern einigen solle. Und diese Voraussetzungen haben es in sich: Statt die Mitglieder immer stärker zu integrieren, fordert Großbritannien eine komplette Neuorientierung der EU zu einem flexibleren "Netzwerk" von Staaten, orientiert an Wettbewerbsfähigkeit. Brüssel müsse Hoheitsrechte an die Mitglieder zurückgeben, die nationalen Parlamente müssten gestärkt werden. Es dürften nicht Länder gleich behandelt werden, die nicht gleich seien.

Weniger Regeln, mehr Eigenständigkeit, weniger Ausgleich - und trotzdem freier Zugang zum europäischen Markt. "Ein besserer Deal" sei das, so Cameron, "ein besserer Deal für Großbritannien und Europa". Tatsächlich ist es das Gegenteil von dem, was Merkel und Hollande wollen, wenn sie eine Bankenunion und weitreichende Kontrollbefugnisse für Brüssel einfordern.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle warf Cameron prompt vor, eine "Politik des Rosinenpickens" zu verfolgen. Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, schrieb bei Twitter: "Camerons Europa à la carte ist keine Option." Schon jetzt haben die Briten gewisse Sonderrechte bei der EU, der sogenannte "Britenrabatt" ist immer wieder Gegenstand europäischer Streitigkeiten.

Der ehemalige Bundesaußenminister Joschka Fischer hält Camerons Vorstoß in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung für abwegig, weil er das Ende der EU bedeuten würde:

"Der Glaube, die EU könnte neu verhandeln und Deutschland könnte dies unterstützen, grenzt an Wunderglauben. Denn wenn mit Großbritannien nach dessen Wünschen der Europavertrag neu verhandelt und beschlossen werden sollte, so würde das für viele andere Mitgliedsstaaten sofort ebenfalls gelten müssen. Und damit wäre es um die EU geschehen."

Auch Camerons Koalitionspartner und Vize-Premier Nick Clegg von den traditionell europafreundlichen Liberaldemokraten äußerte sich kritisch zur Rede: Eine langanhaltende Unsicherheit über die Stellung Großbritanniens in der EU schade der Wirtschaft des Landes, sagte er und schickte ein paar Spitzen gegen Cameron hinterher: "Es ist allein die Entscheidung des Premierministers, als Chef der Konservativen Partei, was er ins Parteiprogramm packen möchte und was er tun würde, wenn es eine Regierung mit konservativer Mehrheit geben sollte."

Singapur auf Steroiden

Womit Clegg einen entscheidenden Punkt anspricht: Ob Cameron nach der Wahl 2015 noch Premierminister ist, erscheint derzeit keinesfalls sicher. In einer aktuellen Umfrage liegt die sozialdemokratische Labour-Partei mit 42 zu 33 Prozent vorne - und deren Vorsitzender Ed Miliband positionierte sich nur wenige Minuten nach Camerons Rede dezidiert gegen ein Referendum. Die LibDems kommen nur auf zehn Prozent, den gleichen Wert erreichen die Euroskeptiker von UKIP.

Camerons Rede kann daher als frühes Wahlversprechen gesehen werden: Seht her, ich kämpfe für Zugeständnisse der EU, und wenn sie nicht kuschen, gebe ich euch die Chance zum Austritt - vorausgesetzt, ihr wählt mich wieder. Innenpolitisch könnte er damit durchaus Erfolg haben: 53 Prozent der Briten würden einer Meinungsumfrage zufolge für den Verbleib Großbritanniens in der EU stimmen, wenn David Cameron einen neuen Vertrag mit der EU aushandeln würde.

Aber was, wenn der Vertrag nicht kommt, wenn die Briten tatsächlich dagegen stimmen? Dann spart, wie die Experten vom Economist vorrechnen, das Land zunächst einmal acht Milliarden Pfund EU-Beiträge pro Jahr. Lebensmittel könnten billiger angeboten werden, Brüsseler Arbeitsmarkt-Regularien zum Schutz von Arbeitnehmern, über die sich London besonders ärgert, würden im Mutterland des Kapitalismus keine Geltung mehr haben. Auch eine strengere Kontrolle der Banken wäre passé, die Londoner City könnte sich zu einem Mekka der Finanzspekulationen wandeln, eine Art "Singapur auf Steroiden", wie der Economist spottet.

"Es gibt keinen Weg zurück"

Auf der anderen Seite - und die wiegt nach Expertenmeinung weit schwerer - stehen gewaltige Verluste. Politisch, aber vor allem auch wirtschaftlich: Britische Farmer würden auf EU-Subventionen in Milliardenhöhe verzichten müssen. Britische Firmen müssten hohe Einfuhrsteuern zahlen, wollten sie ihre Produkte in der EU anbieten. Das beträfe vor allem die Autohersteller und die Flugzeugindustrie, zwei große Wirtschaftszweige. Internationale Konzerne würden es sich unter diesen Voraussetzungen zweimal überlegen, ob sie ihre Werke in Großbritannien eröffnen.

Um das zu umgehen, müssten die Briten bilaterale Verträge mit Staaten schließen, in die sie exportieren wollen. Oder einer Freihandelszone beitreten, wie die Nicht-EU-Mitglieder Schweiz und Norwegen das getan haben. Aber welche EU-Nation würde den Briten nach einer missglückten Erpressung bessere Konditionen anbieten, als sie in der Union gehabt hätten? Aus Camerons "besserem Deal" könnte so ein äußerst schlechtes Geschäft für Großbritannien werden.

Der Premier ist sich dessen offenbar bewusst. In seiner Rede stellte er klar: "Wenn wir die Union verlassen, ist das ein One-Way-Ticket. Es gibt keinen Weg zurück."

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