Europa hat seit vergangener Woche ein "Flüchtlingsschmuggel-Zentrum". Es ist der Polizeibehörde Europol angegliedert und soll leisten, was die "Cybercrime"- und "Terrorismus-Zentren" bei Europol bewirken sollen: besser abgestimmte Zusammenarbeit der nationalen Polizeibehörden, mehr Austausch von Informationen.
Das Anti-Schmuggler-Zentrum, im November beschlossen, wurde in Windeseile errichtet. Der Kampf gegen diese Form der Kriminalität habe jetzt "Top-Priorität", hieß es bei der Eröffnung in Den Haag. Sie sei ein wesentlicher Teil der europäischen Antwort auf die Flüchtlingskrise. Schließlich kämen 90 Prozent der Migranten mit Hilfe von Kriminellen nach Europa.
Service vom Herkunfts- bis ins Zielland
Die EU zieht also in den Kampf - gegen ein Geschäft, das in kürzester Zeit ernorm gewachsen ist. Drei bis sechs Milliarden Euro, schätzt Europol, hätten die Schleuser im vergangenen Jahr eingenommen, und wenn die Krise anhalte, werde es bald doppelt oder dreimal so viel sein. 40 000 Verdächtige sind Europol bekannt, 2015 kamen 12 000 dazu.
Kriminelle Netzwerke unterschiedlichster Größe sind entstanden: von wenigen Menschen, die regional begrenzte Dienste anbieten, bis zu hocharbeitsteiligen Organisationen, welche die Reise vom Herkunfts- bis ins Zielland organisieren. Ein Service, der einiges umfasst: Fahrzeuge, Unterkünfte und Verpflegung organisieren, Behörden bestechen, Dokumente fälschen, übersetzen, Reiseführung und vieles mehr. Daneben wird Geld eingesammelt, transferiert, gewaschen. Die Köpfe größerer Gruppen sitzen in den Brennpunkten der Schleuserindustrie, Städten wie Amman, Beirut, Kairo, Istanbul, Tripoli, oder, in der EU, Athen, Berlin, Kopenhagen, München, Thessaloniki, Seebrügge.
Wo Nachfrage existiert, wird es immer ein Angebot geben
Der Schmuggel von Menschen über Grenzen folgt, nicht anders als der Drogenhandel, dem ökonomischen Grundgesetz: Wo Nachfrage existiert, wird es immer ein Angebot geben. Eine auf Interviews mit 200 Migranten basierende Studie, die das afrikanische Institute for Security Studies im Auftrag der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung erstellt hat, beschreibt diese Industrie im Detail, mit überraschenden Erkenntnissen.
Eigentlicher Auslöser der gegenwärtigen Krise ist der Bürgerkrieg in Syrien nach 2011. Die meisten, die ihm entkommen wollen, bleiben zunächst in der Nähe der Heimat. Nachdem die Lager in Libanon und Jordanien überlaufen sind und die Situation noch bedrohlicher geworden ist, entsteht eine zweite Welle von Menschen, die eine dauerhafte Zukunft in Europa suchen.
Zunächst gehen viele nach Ägypten, für das sie kein Visum brauchen. Als sich das nach dem Sturz der Muslimbrüder 2013 ändert, fliegen sie direkt in den visumfreien Sudan, um sich von dort an die ägyptische oder libysche Küste bringen zu lassen. In Khartum sitzen Schmuggler, die bis dato Somalier, Eritreer und Äthiopier Richtung Europa führten. Die deutlich finanzstärkeren Syrer bewirken einen Schleuser-Boom und schaffen eine Infrastruktur, die wiederum mehr Eritreer und Somalier animiert, gen Norden zu ziehen.
Das erklärt ein Paradox: Warum hat auch die Migration aus jenen Ländern stark zugenommen, in denen sich wenig verändert hat? Die Lage am Horn von Afrika ist zwar geprägt von Armut und Gewalt. Aber das war schon vor zehn Jahren so. Die Antwort: Eritreer und Somalier folgen im Windschatten der Syrer. Die angeschwollene Schmugglerindustrie wirbt zusätzliche Kunden, Angebot schafft Nachfrage. Die Vermutung liegt nahe, dass dies auch für Iraner, Afghanen, Pakistaner sowie Kosovaren und Albaner gilt.
Ähnliches ist weiter westlich zu beobachten. Obwohl sich in Ländern wie Nigeria, Senegal oder Gambia die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen zum Teil verbessert haben, machen sich seit 2013 deutlich mehr Migranten von dort auf den Weg nach Norden. Durch die Sahara werden sie von Tubu- oder Tuareg-Nomaden geführt, die vom staatlichen Zerfall in Libyen profitieren. Die Boote Richtung Italien bieten 300 bis 1000 Plätze. So groß ist die syrische Nachfrage zunächst nicht. Um die Überfahrt rentabler zu machen, werden Wirtschaftsmigranten in Libyen und in Ländern südlich der Sahara angeworben.
Eine völlig neue Dynamik entsteht durch die Operation "Mare Nostrum". Nachdem im Herbst 2013 innerhalb weniger Tage fast 400 Menschen ertrunken sind, retten Italiens Marine und Küstenwache in den folgenden elf Monaten 150 000 Menschen. Die Reaktion der Schlepper: Statt ihre Kunden wie bisher in halbwegs seetüchtigen Kuttern die 160 Seemeilen von Libyen nach Lampedusa zu transportieren, setzen sie sie auf hoher See in Schlauchbooten aus, ohne Crew, aber mit Satellitentelefon und Nummer der Küstenwache. Das senkt die Kosten der Schmuggler enorm, beflügelt das Geschäft, macht die Überfahrt für die Flüchtlinge aber um ein Vielfaches gefährlicher. Auch nach dem Ende von "Mare Nostrum", als nur noch sporadisch gerettet wird, bleibt es bei den Schlauchbooten; Tausende ertrinken.
Unter den Augen der Behörden entsteht eine regelrechte Industrie
Die Schleuser in der Ägäis übernehmen das Geschäftsmodell, nachdem die Route über die Türkei, Griechenland und den Balkan an Bedeutung gewonnen hat. 2008 bis 2014 haben im Schnitt jährlich 50 000 Menschen diesen Weg gewählt, 2015 sind es plötzlich mehr als eine Million. Die Flüchtlinge werden angewiesen, ihre Boote bei der Ankunft auf den griechischen Inseln oder schon beim Anblick der Küstenwache zu zerstören. Manche wissen nicht einmal, wo sie gelandet sind. Die Schleuser-Dienstleistungen konzentrieren sich auf Izmir und Bodrum an der türkischen Küste, wo unter den Augen der Behörden eine regelrechte Industrie entsteht.
Die Studie zeigt, dass es, solange die Nachfrage bleibt, schwierig bis unmöglich ist, den Schmugglern "das Handwerk zu legen", wie nicht nur Kanzlerin Angela Merkel fordert. Ihre Netze sind extrem flexibel. Ein Ausfall, etwa durch Festnahme, wird sofort ersetzt. Das untauglichste Mittel sind sicher Grenzschließungen, darauf wies auch Merkel am Dienstag in einem Interview mit der Volksstimme hin: "Wer vor den Bomben auf Aleppo flieht oder vor den Mördern des IS, den schockieren auch die Umstände in Griechenland nicht."
Das tauglichste wäre wohl eine vollständige Legalisierung der Migration. Berlin will in diese Richtung gehen durch eine großzügige Umsiedlung aus der Türkei. Sicher ist aber auch: Sollte die Balkanroute eines Tages obsolet geworden sein, könnte die Nachfrage schnell wieder Richtung Libyen kippen. Die Schlepper stehen bereit.