Menschenrechte:Diktaturen ohne Ausweg

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Während der Proteste gegen ihn konnte der belarussische Diktator Lukaschenko (r) auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin setzen. (Foto: Kremlin Pool via www.imago-images/Russian Look)

Verbrechen gegen die Menschlichkeit können heute überall auf der Welt geahndet werden - so wie kürzlich beim Prozess gegen einen syrischen Folterer in Koblenz. Doch das Weltrechtsprinzip schafft ein Dilemma: Despoten, denen keine Exit-Strategie bleibt, klammern sich möglicherweise umso verbissener an die Macht.

Von Frank Nienhuysen, Arne Perras und Dunja Ramadan, München

Bis zuletzt schien der tunesische Diktator über den Dingen zu schweben, entrückt von der Realität; eine Eigenschaft, die bei Langzeitherrschern oft beobachtet wird. "In wenigen Stunden werde ich wieder zurück sein", sagte Zine el-Abidine Ben Ali. Da saß der gestürzte Machthaber gerade im Flieger Richtung Saudi-Arabien, wo er achteinhalb Jahre später starb. Seine Heimat Tunesien, das Land, das er 24 Jahre lang autokratisch regiert hatte, sah er nie wieder. Aber er kam davon.

Ganz anders das Ende des libyschen Despoten Muammar al-Gaddafi, der 42 Jahre lang herrschte. Rebellen zogen den völlig verwahrlosten Diktator im Herbst 2011 aus einem Abwasserrohr. Er starb wenig später; wie, konnte nie vollständig aufgeklärt werden. Doch das Bild seines blutverschmierten Leichnams, auf einer mit Plastik überzogenen Matratze liegend, ging um die Welt.

Gaddafis Schicksal muss die Diktatoren dieser Welt aufgeschreckt haben. Aber auch die Angst, womöglich den Rest ihres Lebens hinter Gittern zu verbringen, dürfte sie umtreiben, zumal wenn sie neulich die Nachrichten aus Deutschland verfolgten. Dort verurteilte ein Gericht in Koblenz den Syrer Anwar R. wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft. Der frühere Oberst war in einem Gefängnis des Geheimdienstes als Vernehmungschef für die Folter von mindestens 4000 Menschen verantwortlich. Sein Asylaufenthalt in Deutschland wurde dem 58-Jährigen zum Verhängnis.

Möglich machte diesen Prozess das Weltrechtsprinzip, nach dem schwere Verbrechen überall geahndet werden können. Doch was bedeutet es, wenn dieses Prinzip immer öfter umgesetzt wird? Welche Folgen wird dies für die verbleibenden Diktaturen haben? Es geht um Männer wie Baschar al-Assad in Syrien, Alexander Lukaschenko in Belarus, die Generäle in Myanmar und im Sudan, um nur einige Beispiele zu nennen.

"Assad sucht nicht nach Türen für einen Ausweg. Er weiß, dass er sich nirgendwo verstecken kann, auch in den Höhlen von Tora Bora wird man ihn finden", sagt der syrische Anwalt Anwar al-Bunni, Direktor des Syrischen Zentrums für Rechtswissenschaften und Forschung in Berlin. Er setzt sich dafür ein, dass Menschenrechtsverletzungen in Syrien aufgeklärt und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Assads Verbrechen seien zu offenkundig, die ganze Welt habe den Krieg gegen sein Volk verfolgt. Das Weltrechtsprinzip sieht er positiv, er selbst wurde von Anwar R. verhaftet, in Deutschland landeten sie im selben Flüchtlingswohnheim. "Die Täter wissen jetzt, dass sie verfolgt werden können", sagt al-Bunni. "Ich kenne Syrer, die aus Europa geflohen sind, weil sie Angst haben." Er glaubt, dass Assad eines Tages für seine Taten belangt werde, im eigenen Land. Freiwillig verlassen wird Assad Syrien wohl nie.

"Wenn wir die Dinge moralisch betrachten, ist es ganz klar: Wir wollen, dass diese Leute für ihre Verbrechen bestraft werden", sagt der Politologe Alastair Smith von der New York University, der sich mit dem Verhalten von Diktatoren beschäftigt hat. Aber dafür müsste man sie erst einmal erwischen. Früher fanden viele Despoten einen Weg ins Exil, Smith nennt das "die Möglichkeit einer weichen Landung".

Idi Amin war so ein Fall. Der ugandische Diktator floh nach seinem Sturz 1979 nach Saudi-Arabien, wo ihm die Regierung eine Villa in Dschidda zur Verfügung stellte. Auf den Philippinen wurde kurze Zeit später ein demokratischer Neuanfang möglich, weil sich Diktator Ferdinand Marcos nach Massenprotesten im eigenen Land nach Hawaii absetzen konnte. Die USA ermöglichten diesen Deal, der Marcos Strafe und Gefängnis ersparte. Hätte es das Schlupfloch nicht gegeben, hätte sich der Konflikt lange hingezogen und womöglich viel mehr Opfer gefordert.

Das Weltrechtsprinzip und auch die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag könnten es Despoten sehr erschweren, noch einen sicheren Abgang auszuhandeln. Denn wohin sollten solche Diktatoren noch gehen? "Wer für sich aber keine sanfte Landung aushandeln kann, wird versuchen, sich so lange an die Macht zu klammern wie möglich", sagt der Politologe Smith. Das ist ein Problem, denn sie stehen dann jedem Neuanfang im Wege, der nötig ist, um Gewalt und Leid zu beenden.

Aus diesem Dilemma gibt es kaum einen Ausweg. Im zentralasiatischen Usbekistan hatte der damalige Machthaber Islam Karimow 2005 einen Aufstand niedergeschlagen. Zuletzt gab es auch Gewalt in Kasachstan, wo Anfang Januar Menschen gegen die Erhöhung des Gaspreises demonstrierten und sich der Protest gegen das autoritäre System auswuchs. Als es zu Gewaltausbrüchen kam, griff die Führung durch, erteilte den Sicherheitskräften sogar die Erlaubnis, ohne Vorwarnung scharf zu schießen. Mindestens 225 Menschen starben. Russland und das von ihm dominierte Sicherheitsbündnis sprangen Kasachstan militärisch bei und halfen, strategische Gebäude zu sichern. Die kasachische Führung sprach von "Kampfmaßnahmen gegen terroristische Gruppen", das EU-Parlament dagegen kritisierte Menschenrechtsverletzungen und fordert eine unabhängige Aufklärung der Unruhen.

Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko bezeichnete das Eingreifen indes als vorbildlich und sagte ähnliche Einsätze des Militärbündnisses in anderen autoritären Staaten voraus, in Usbekistan und Tadschikistan. Lukaschenkos Niederschlagen der belarussischen Protestbewegung mitten in Europa hat den Westen entsetzt und mehrere Sanktionsrunden ausgelöst. Allein: Er herrscht auch dank Russland noch immer in Minsk.

Carte blanche also für ihn? Oder könnte ihm doch eines Tages die internationale Justiz gefährlich werden? Mit deutscher Hilfe gibt es zumindest den Versuch. "Folter, Gewalt und Unterdrückung, Menschenrechtsverstöße der schwersten Sorte dürfen nicht ohne Konsequenzen bleiben", sagte vor knapp einem Jahr der damalige Bundesaußenminister Heiko Maas der SZ. Deshalb unterstützt Deutschland zusammen mit fast 20 weiteren Staaten die neue, von Menschenrechtsorganisationen geführte International Accountability Platform for Belarus. Zeugenaussagen, Foltervorwürfe und andere Menschenrechtsverletzungen können dort dokumentiert werden. Allein das kann Opfern politischer Willkür schon helfen. Aber führen solche Dokumente eines Tages auch zu Prozessen wie im Fall des Syrers Anwar R.?

"Sicher ist: Die Weltstrafjustiz ist kein Allheilmittel, um Frieden und Gerechtigkeit zu erlangen", sagt John Packer, Rechtsprofessor an der Universität Ottawa. Man müsse sogar damit rechnen, dass die Drohung mit der internationalen Justiz in manchen Fällen "einen perversen Effekt" haben könne, wie er das nennt; wenn nämlich die Angst vor internationaler Strafverfolgung einem Diktator nur noch eine Option lässt: weiterzuherrschen, koste es, was es wolle. "In so einem Fall", sagt der Menschenrechtsexperte Packer, "wird das Leiden der betroffenen Bevölkerung noch verlängert."

Das wäre eine ungewollte Folge internationaler Strafjustiz. "Man sollte sich auch klarmachen, dass Strafen und Verurteilungen nicht die einzigen Wege sind, mit staatlichen Verbrechen umzugehen", sagt Packer. Südafrika etwa nutzte Versöhnungskommissionen, um das Erbe der Apartheid zu verarbeiten. Täter bekannten sich zu ihrer Schuld, gingen aber straffrei aus. Andernfalls wäre das Risiko eines langen Bürgerkriegs sehr groß gewesen.

Sollte das Weltrechtsprinzip weiter an Gewicht zunehmen, wo könnten sich Diktatoren noch sicher fühlen? Ein Land, in dem solche Überlegungen das Kalkül herrschender Generäle mitbestimmen, ist der Sudan. Dort putschte das Militär im Herbst und beendete die Arbeit einer Übergangsregierung aus militärischen und zivilen Kräften, die eine Demokratie am Nil schaffen wollte.

"Das Militär war nicht ehrlich", sagt Amgad Fareid Eltayeb, Vizestabschef des zurückgetretenen zivilen Regierungschefs Abdullah Hamdok. Nahezu jeden Tag erlebt er, dass das Militär, das sich zunächst kompromissbereit gab, hart durchgreift. "Die Generäle hatten viele Gründe zu putschen, aber ganz oben auf der Liste der Motive steht die Angst, für gegenwärtige oder frühere Verbrechen juristisch verfolgt zu werden." Also herrschen sie weiter, um jeden Preis. Eine Kalkulation ohne Exit-Strategie.

Im Gefängnis sitzt unterdessen Langzeitdiktator Omar al-Baschir. Die jetzigen Machthaber haben ihren einstigen Paten hinter Gitter gebracht, der Strafgerichtshof in Den Haag wartet darauf, ihm wegen Kriegsverbrechen den Prozess zu machen. Aber wird er auch ausgeliefert? Jene Kräfte, die nun in Khartum Gewalt einsetzen, entstammen seinem Apparat. Was, wenn Baschir vor Gericht aus Rache auspacken würde über jene, die in seinen Diensten folterten und töteten? Ihn auszuliefern, liegt eher nicht im Interesse jener Generäle, die nun in Khartum herrschen.

Wo nach dem Übergang von Diktaturen zur Demokratie früher Amnestien für Angehörige brutaler Regime erlassen wurden - etwa in Spanien nach der Franco-Diktatur oder in Argentinien -, ermöglichten oder erleichterten solche Gesetze einen Neuanfang. Auch wenn dies Opfern große Qualen bereitete, weil Täter straflos ausgingen und eine Aufarbeitung der Verbrechen zunächst nicht möglich war. Wäre also eine Amnestie ein Weg, um den Knoten in Khartum aufzulösen? Amgad weicht aus: "In der gegenwärtigen Lage gibt es darüber gar keine Diskussionen." Die Gewalt des Militärs lasse so etwas nicht zu.

In Myanmar, wo ebenfalls das Militär seit Jahrzehnten dominiert und eine Demokratisierung abwürgte, gilt es als noch unwahrscheinlicher, dass die Junta in absehbarer Zeit vor einen Richter kommt. Sie kann darauf setzen, dass die Weltgemeinschaft nach dem Afghanistan-Debakel militärisch nicht intervenieren wird. Stattdessen inszenieren die Generäle selber Prozesse gegen die entmachtete Regierungschefin, Aung San Suu Kyi. Und so liegt bittere Ironie in jenem Satz, den der Junta-Chef und mutmaßliche Völkermörder Min Aung Hlaing mit Blick auf Aung San Suu Kyi formuliert hat: "Niemand steht über dem Gesetz."

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