Bundesverfassungsgericht:Wahlrecht für betreute Menschen gilt bereits zur Europawahl

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Etwa 85 000 betreute Menschen durften bisher bei bestimmten Wahlen nicht mitstimmen. Durch das Urteil gibt es nun Bewegung. (Foto: Julian Stratenschulte/picture alliance/dpa)
  • Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass Menschen mit Behinderung, für die eine Betreuung angeordnet ist, wählen dürfen.
  • Schon an der Europawahl am 26. Mai dürfen sie teilnehmen.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Menschen, die unter Vollbetreuung stehen und deshalb bisher von Wahlen ausgeschlossen waren, dürfen an der bevorstehenden Europawahl am 26. Mai teilnehmen. Das hat das Bundesverfassungsgericht an diesem Montagabend entschieden. In einer einstweiligen Anordnung entsprach der Zweite Senat damit einem Antrag von Grünen, Linken und FDP.

Allerdings erhalten die rund 84 000 Betroffenen in den nächsten Wochen nicht automatisch eine Wahlbenachrichtigung. Sie müssen vielmehr einen Antrag bei ihrer Gemeindeverwaltung stellen - nur dann werden sie ins Wahlregister eingetragen. Ganz überwiegend geht es um Personen, für die eine Betreuung in allen Angelegenheiten des täglichen Lebens angeordnet worden war. Hinzu kommt eine kleine Gruppe schuldunfähiger Straftäter, die in die Psychiatrie eingewiesen worden sind.

Grundsätzliche Fragen

Für beide Gruppen galt bisher ein automatischer Wahlausschluss, der vor wenigen Wochen vom Verfassungsgericht für grundgesetzwidrig erklärt worden war. Politisch nicht mehr umstritten ist, dass nunmehr ein inklusives Wahlrecht für alle geschaffen werden muss. Die große Koalition, die das bereits im Koalitionsvertrag vereinbart hatte, hat ein entsprechendes Gesetzgebungsverfahren eingeleitet. Allerdings sollte dies nach dem Willen der Regierung erst ab 1. Juli gelten. Die Oppositionsfraktionen wollten durchsetzen, dass die Betroffenen schon bei der Europawahl mit abstimmen dürfen. Denn der Ausschluss einer Gruppe, die von Rechts wegen eigentlich zugelassen sein müsste, führe zu einer "Falschbestimmung des Wahlvolkes", argumentierte ihr juristischer Vertreter Ulrich Hufeld.

Zwar warnte Stephan Mayer, Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium, eine überstürzte Öffnung der Wahl für Betreute wäre mit einem großen Aufwand verbunden und zudem "extrem fehleranfällig". In der Verhandlung hatte sich abgezeichnet, dass die Vorbereitungen praktisch durchaus zu bewältigen wären, jedenfalls konnte man Bundeswahlleiter Georg Thiel so verstehen. Zwar käme wohl einiges an Arbeit auf die Kommunen zu, um herauszufiltern, welche der ausgeschlossenen Personen ins Wählerverzeichnis aufgenommen werden müssen. Um den Aufwand zu verringern, entschied sich das Gericht nun für eine Antragslösung, so dass die Betroffenen nun den ersten Schritt tun müssen.

Nicht ganz unkompliziert waren die grundsätzlichen Fragen, die es zu klären galt. Denn das Bundesverfassungsgericht hatte vor wenigen Wochen ja keineswegs ein Wahlrecht für alle gefordert. In dem Beschluss ist vielmehr zu lesen, dass der Ausschluss bestimmter Gruppen durchaus zulässig sein kann. Und zwar dann, wenn für sie "die Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße besteht". Denn eine Wahl ist aus Sicht der Richter mehr als ein Kreuzchen auf dem Wahlzettel, sie ist Teil eines demokratischen "Integrationsvorgangs", der freie und offene Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten voraussetzt. Das bedeutet: Wem diese Kommunikation nicht möglich ist, der kann auch von der Wahl ausgeschlossen werden. Das Gericht hatte sogar geschrieben: Dass dies für die Gruppe der Betreuten gelte, sei "zumindest nicht fernliegend". Verfassungswidrig war der Wahlausschluss nur deshalb, weil es ein wenig willkürlich war, ihn allein an die formale Anordnung einer Betreuung zu knüpfen.

Das aber bedeutet: Der Gesetzgeber hat einen Spielraum bei der Umsetzung dieser Entscheidung, nicht zuletzt in der Frage, wie eine Unterstützung der neuen Wahlberechtigten so gestaltet werden kann, dass sie Manipulationen ausschließt. Weshalb sich - Stichwort Ersatzgesetzgeber - die Frage stellte, ob das Gericht nun die Geschäfte des Bundestags übernehmen würde. Präsident Andreas Voßkuhle sah dies freilich eher als Art Amtshilfe für den Gesetzgeber, der nachvollziehbarerweise nicht so schnell reagieren könne. Eine einstweilige Anordnung des Gerichts sei sozusagen das "Zusammenwirken zweier Verfassungsorgane". Und es bliebe bei einem einmaligen Eingriff - nach der Europawahl wäre der Gesetzgeber wieder am Zug.

© SZ vom 16.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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