Massenproteste in Russland:Neue Rolle für das Volk

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Das Volk geht auf die Straße - und der Kreml kündigt zaghafte Reformen an: Erstmals erleben die Russen, dass sie Einfluss auf die politische Obrigkeit haben können. Wladimir Putin, der Kandidat für die nächste Präsidentschaftswahl, verliert an Autorität. Bleibt er so uneinsichtig, wird er sich auf Dauer nicht halten können.

Frank Nienhuysen

Wladimir Putin weiß, dass die Zeit für ihn noch längst nicht abgelaufen ist. Im Gegenteil, er will sie nutzen. Vor zwei Wochen protestierten die Leute erstmals zu Tausenden, und nun ist auch der zweite Massenprotest friedlich zu Ende gegangen.

In Moskau haben die Menschen gegen die "schmutzige Duma-Wahl" protestiert. (Foto: AP)

In diesem Rhythmus wird sich das allerdings kaum fortsetzen. Nach Silvester verfällt das Land traditionell bis Mitte Januar in einen kollektiven Dämmerschlaf; schwer vorstellbar, dass sich da die Menschen gleich wieder erheben. Nicht einmal kritische Zeitungen erscheinen in dieser Ruhephase. Und das einflussreiche Fernsehen ist noch immer in der Hand des Kremls.

Vielleicht deshalb gibt sich die Staatsmacht derzeit so gelassen. Sie deutet den Protest sogar als Zeugnis der Freiheit im Land. Ihr bleibt auch kaum etwas anderes übrig.

Das Putin-Lager spielt auf Zeit. Bald ist es Januar und wenig später steht die Präsidentschaftswahl Anfang März vor der Tür. Da könnte der Ruf nach einer Neuwahl des Parlaments, der jetzt auf den Demonstrationen erschallte, allmählich verfliegen.

Sollte dies nicht passieren, mag der Regierungschef auch noch an ein Bauernopfer denken in Person des Leiters des Wahlkomitees, Wladimir Tschurow. Dessen Rücktritt ist nur eine Frage der Zeit. Ob jedoch das erzürnte Volk mit der Entlassung allein besänftigt werden kann, ist zweifelhaft. Die Kritik an den unehrlichen Wahlen mutiert inzwischen zu einer grundsätzlichen Kritik am System - an Putins sogenannter gelenkter Demokratie. Und das könnte ihm eines Tages sehr gefährlich werden.

Das russische Volk wächst gerade in eine neue Rolle hinein; es erlebt erstmals, dass es eine Art Einfluss auf die politische Obrigkeit hat. Auch Masse kann Macht bedeuten, das ist die Botschaft der jüngsten Demonstrationen. Die Reformvorschläge von Präsident Dmitrij Medwedjew, halbherzig und eher langfristig gedacht, sind dafür zumindest ein Zeichen. Viele Russen aber gieren nach mehr, und je näher die nächsten Wahlen rücken, desto vehementer werden sie dies auch wieder demonstrieren.

Zumindest nach zwei weiteren Präsidentenamtszeiten für Putin sieht es derzeit nicht mehr aus. Immer weniger bleibt übrig von seiner Autorität, die sich bisher noch auf Kontrolle gründet: auf zahme Medien, seine landesweit herrschende Partei, einen staatlichen Propaganda-Apparat, der den Regierungschef als nationalen Führer verherrlicht und die Menschen lammfromm hält. Dieses Prinzip funktioniert so nicht mehr.

Putins Glück ist, dass sich den unzufriedenen Russen bisher noch kein Gegenheld aufdrängt. Putins Pech könnte aber sein, dass er selber irgendwann alle Übel dieses Landes personifiziert. Sein Freund, der langjährige Finanzminister Alexej Kudrin, hat sich bereits distanziert. Sollten ihm demnächst weitere Freunde folgen, kann es um den Premier schnell einsam werden. Ein neuer, gewendeter Putin ist nicht in Sicht. Aber ein uneinsichtiger wird sich auf Dauer auch nicht mehr halten können.

© SZ vom 27.12.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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