Ein paar Tage erst ist es her, dass die 53 Jahre alte Timoschenko vom Gefängnis schnurstracks zum Kiewer Maidan geflogen wurde. Sie hatte einen kämpferischen, rührseligen Auftritt. Aber auch da hing schon ein Transparent an der Balustrade eines Einkaufszentrums, das bis Mittwoch noch niemand abgenommen hat: "Julia ist frei, und die Jungs sitzen noch." Die Jungs, das sind für die Kiewer die Helden der vergangenen Tage, die Widerstandskämpfer, die Malocher auf den Barrikaden.
Inzwischen sind die letzten von ihnen freigelassen worden, aber selbst wenn: Es steckt so viel in diesem kurzen Spruch. Julia ist frei, und die Jungs sitzen noch. Als wäre es für sie ein Privileg. Sie hat lange und schwer büßen müssen in ihrer Haft in Charkow.
Timoschenko war als Gegnerin des verhassten Präsidenten Viktor Janukowitsch ein Symbol. Der ließ sie festnehmen, verurteilen, einsperren wegen angeblichen Machtmissbrauchs in ihrer Zeit als Ministerpräsidentin. Aber jetzt, da die Geschichte Janukowitsch auf die Krim oder sonst wohin vertrieben hat, scheint sich auch diese Symbolwirkung überlebt zu haben. Besiegt haben Janukowitsch andere.
Ihr war vielleicht nicht klar, wie viel sich verändert hat in ihrer Abwesenheit. Kaum hatte sie das Gefängnis verlassen, meldete sie ihr Interesse an, bei der Präsidentschaftswahl im Mai zu kandidieren. Aber das ist nun gar nicht mehr so sicher.
In einem ARD-Interview sagte ihre Tochter Jewgenia Timoschenko am Mittwoch, ihre Mutter habe sich noch nicht offiziell erklärt, erst in ein oder zwei Wochen werde sie sich dazu äußern. Erst einmal würde sie im März in eine Reha-Klinik gehen, "und dann müssen wir weitersehen." Ist es ihr Rückenleiden, das sie zögern lässt, oder will sie doch erst einmal abwarten und ausloten, wie ihre Chancen bei einer Abstimmung überhaupt stünden? Sollte sie bei einer Wahl verlieren, würde sich ihr Einfluss in ihrer Vaterlandspartei, der Batkiwschtschyna, weiter verringern.
Übergangspräsident Alexander Turtschinow von der Vaterlandspartei ist so etwas wie der Mann der Stunde, am Mittwoch übernahm er vorläufig auch den Oberbefehl über die Armee. Dann gibt es ja noch Arsenij Jazenjuk, den ehemaligen Außenminister, der Timoschenko während ihrer Haft vertreten hat.
Timoschenko - ein Symbol der Vergangenheit
Wie auch immer, Timoschenko, die einstige Ikone der orangenen Revolution, wird teilen müssen. Und bei der Präsidentenwahl tritt überdies auch Vitali Klitschko an, das hat er gleich am Dienstag, dem ersten Tag der offiziellen Registrierung, sehr deutlich gemacht.
In Klitschkos Partei Udar zeigt man deutlich, wie man zu Timoschenko steht. "Sie hat ihre Verdienste, und ihre Freilassung ist gerecht, denn sie war eine politische Gefangene", sagt Bogdan Balasynowitsch, "aber ihre Zeit ist vorbei. Sie wird von der Bevölkerung nicht mehr so angenommen wie noch vor fünf Jahren. Sie ist ein Symbol der Vergangenheit." Ihre Kandidatur würde Balasynowitsch trotzdem begrüßen. Damit es keine Spekulationen über Absprachen gebe. Auf Kungeleien reagiert man derzeit empfindlich in diesem Land.
Pawel Logwin kommt aus Saporoschje im Südosten der Ukraine, ein älterer Herr, der mit seiner Frau monatelang jeden Tag auf dem Maidan war. Er sagt: "Julia Timoschenko hat schmutzige Hände. Sie hatte einst einen Koffer Geld bei sich, als sie festgenommen wurde."
Logwin würde Klitschko wählen, und seine ganze Familie wolle es auch. "Die Menschen wollen jetzt echte Veränderungen, sie wollen neue Gesichter. Timoschenko hat noch Rückhalt, Vertrauen, aber die Mehrheit ist für Klitschko."
"Ich glaube, dass sie sich bereichert hat"
Die Suche geht weiter auf dem Maidan, und es ist nicht so, dass sich niemand zu Timoschenko bekennen würde. Ljudmila Matwejewna hat sie immer gewählt, die ältere Frau nennt sich "eine ukrainische Patriotin", die Timoschenko verehrt, "weil sie klug ist, erfahren". Aber sie glaubt auch zu wissen, warum die Politikerin jetzt zögert.
Der Streit damals mit Viktor Juschtschenko, dem zweiten Protagonisten der orangenen Revolution, mit dem Timoschenko Janukowitsch verdrängt hatte, ehe sich das nach Europa strebende Gespann zerstritt und die Rückkehr von Janukowitsch ermöglichte. "Das ist ihre große Verfehlung", sagt Matwejewna, "die junge Generation will deshalb lieber andere Gesichter."
Marina Golownjowa, Studentin und Fotografin, gehört zu dieser Generation. Sie sagt über Timoschenko, "alle meine Freunde sind gegen sie. Wir wollen anderen eine Chance geben." Sogar der polnische Außenminister Radosław Sikorski hat offen seine Bedenken geäußert. "Viele Ukrainer fragen sich, woher sie ihr Vermögen hat", sagte er. Marina Golownjowa hat eine Antwort: "Ich glaube, dass sie sich bereichert hat. Und 50 Prozent der Ukrainer glauben das auch."