Libyen nach Gaddafi:Wenn die Hetzjagd ein Ende hat

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Libyen hat ideale Ausgangsbedingungen für die Zeit nach dem Umsturz: Das Land hat die größten Erdölvorräte Afrikas, der Westen und viele arabische Staaten stehen den Rebellen aufgeschlossen gegenüber. Doch keiner weiß, ob die Aufständischen Gaddafis Operettenstaat nach 42 Jahren zielloser und irrlichternder Herrschaft wirklich in eine funktionierende Demokratie umwandeln können - und wollen.

Tomas Avenarius

Die letzte Prophezeiung des Muammar al-Gaddafi war, wie fast alle Prophezeiungen aus dem Mund dieses Mannes, leeres Gerede. "Ich werde euch Gasse für Gasse und Haus für Haus aus euren Löchern treiben", hatte der libysche Diktator den Rebellen gedroht. Ein knappes halbes Jahr später könnte der "Bruder Führer" nun selbst erleiden, was er seinem Volk angekündigt hatte: eine erbarmungslose Hetzjagd, an deren Ende er verängstigt aus einem Kellerloch gezerrt wird. Ob Gaddafi umkommt, auf Schleichwegen ins Exil fliehen kann oder sich noch vor Gericht verantworten muss: Das Regime des Eitelsten unter den eitlen arabischen Diktatoren scheint nun wirklich am Ende zu sein.

File photo of a rebel fighter shouting in front of a burning vehicle between Benghazi and Ajdabiyah

Noch ist der Kampf gegen Gaddafi nicht zu Ende. Wie es weitergeht, wenn der libysche Machthaber besiegt ist, weiß niemand. 

(Foto: REUTERS)

Nach fast 42 Jahren zielloser, irrlichternder Herrschaft eines Narzissten haben die Libyer jetzt die Chance, eine Gesellschaft aufzubauen, die Vorbild für die arabische Welt sein könnte. Das Land ist reich; es birgt die größten Erdölvorräte Afrikas für eine Gesellschaft von nur sechs Millionen Menschen. Der Westen steht den Rebellen aufgeschlossen gegenüber, viele arabische Staaten tun das ebenso. Selbst die Zögerer der Weltgemeinschaft, Russland und China, werden ihr Bestes tun, sich am Aufbau des Landes zu beteiligen - und damit am großen Geschäft. Das sind ideale Ausgangsbedingungen für ein Libyen nach Gaddafi.

Ob es dazu kommt, ist eine ganz andere Frage. Ja, die Rebellen stehen unmittelbar vor dem Triumph in Tripolis, sie scheinen die Schlacht gewonnen zu haben. Aber was, wenn der Sieg endgültig errungen ist? Bleibt der zusammengewürfelte Haufen aus Nationalisten, Demokraten, Islamisten und Stammesführern einig? Haben ihre Führer die Weitsicht, die gespaltene Gesellschaft zu einen und den Gefolgsleuten des Regimes eine Zukunftsperspektive zu eröffnen? Haben sie eine konkrete Vorstellung von dem Staat, den sie Gaddafis Vision einer angeblich herrschaftslosen Volksherrschaft entgegensetzen wollen? Weder die Libyer selbst noch die internationale Staatengemeinschaft wissen, was von den Rebellenführern zu erwarten ist.

Wie alle Revolutionen ist der libysche Umsturz ein Unternehmen mit offenem Ausgang: Sinn machen Revolutionen erst aus der historischen Rückschau heraus. Während sie sich vollziehen, ist ihre innere Dynamik kaum zu erkennen und schwer zu steuern. Das gilt für Libyen ebenso wie für Ägypten, Tunesien, Syrien oder Jemen. Die Gemeinsamkeiten aller arabischen Aufstände liegen auf der Hand: Die über Jahrzehnte geknechteten, von den Machthabern für dumm verkauften Menschen erheben sich. Sie zahlen bereitwillig den blutigen Preis für Freiheit und Selbstbestimmung. Sie stürzen die Autokraten. Was folgt, ist ungewiss.

Beispiel Ägypten: Der Aufstand auf dem Tahrir-Platz im Frühjahr zielte auf den selbstgefälligen Hosni Mubarak. Sechs Monate später entdecken die von ihrer Revolution enttäuschten Ägypter nun wieder den Staat Israel als Feind. Statt auf die Wahlen und eine Aufarbeitung der Mubarak-Vergangenheit hinzuarbeiten, reißen sie die Flagge des ungeliebten jüdischen Nachbarn von der Kairoer Botschaft. So birgt die Revolution am Nil, die ins Stocken geraten ist, neue Risiken für eine unruhige Region.

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