Der junge Syrer zieht die Schultern noch ein wenig höher, als könnte das helfen gegen die Kälte. Es hilft nicht. Der Frost hat sich über das Gelände am Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) in Moabit im Zentrum Berlins gelegt und weicht nicht. Und wenn du die ganze Nacht nicht geschlafen und gestanden und gewartet hast, spürst du die Kälte umso mehr.
"Ich warte seit zwei Uhr heute Morgen", sagt der 24-Jährige, "da waren hier schon Hunderte." Die Ersten hatten sich am frühen Abend angestellt. Sie hofften, dranzukommen, endlich. Manche stehen, wie der junge Akademiker aus Homs in Syrien, seit Tagen. Er erreichte vor drei Monaten Deutschland, in der Heimat war es zu gefährlich geworden. Als Flüchtling registriert ist er, nun brauche er einen Nachweis für die Unterkunft, er verliere sie sonst.
Ehrenamtliche Flüchtlingshelfer:So kippt die Stimmung
Was kommt nach dem Sommer der Hilfsbereitschaft? Die Situation vor dem Berliner Lageso gibt erste Hinweise, die die Politik beunruhigen müssen.
Der Syrer ist ein "Terminkunde"
Der Syrer ist, der Begriff wird vor dem Lageso ad absurdum geführt, das, was man hier einen Terminkunden nennt. Er hatte einen Termin, schon vor Wochen. Er war da, angenommen wurde er nicht, weil Hunderte vor ihm warteten, und als es losging in aller Früh, wurde gerempelt und gedrängt, geschubst und geschoben.
"Es ist ein unfassbares Chaos, und es wird nicht besser", sagt Diana Henniges. "Die ganze Nacht warten Leute, um Geld oder einen Schein zu bekommen, den sie brauchen." Henniges zählt zu den Aktiven vom Verein "Moabit hilft", die hier Flüchtlingen Rat geben, heiße Getränke verteilen, Essen, warme Kleidung. Ohne die Freiwilligen wäre alles noch schlimmer.
Viele Helfer und auch Mitarbeiter der Verwaltung reiben sich auf, dennoch stehen die Berliner seit Monaten ratlos vor der Frage, warum man nicht hinbekommt, was - so groß der Andrang auch ist - in anderen Städten geht. Warum nicht in Berlin?
Die desolate Situation führe immer wieder dazu, dass Flüchtlinge nicht ausreichend versorgt werden, in der Kälte draußen ausharren, berichten die Freiwilligen von "Moabit hilft". Jeder kann die Betroffenen vor dem Lageso antreffen.
Der namhafteste Kronzeuge für das Desaster ist der Mann, den man für verantwortlich halten kann. Vor zwei Wochen beklagte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) die Situation am Lageso: "Wir haben dort unakzeptable Zustände. Ich will diese Bilder nicht mehr sehen." Er warf dem Sozialsenator Mario Czaja von der CDU Versagen vor.
"Wer sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlt, soll Platz machen", sagte Müller. Es war keine geheime Senatssitzung, sondern eine Regierungserklärung, die offenbarte, wie weit sich die Koalition aus SPD und CDU ein Jahr vor der nächsten Abgeordnetenhauswahl entzweit hat. Oppositionspolitiker gratulierten Müller zur schonungslosen Analyse. Die Regierungspartner von der CDU erinnerten ihn daran, dass er der Chef und damit verantwortlich ist.
Was so ratlos macht, ist die Permanenz des Desasters. Im Sommer harrten vor dem Lageso täglich mehr als tausend Flüchtlinge in der Hitze aus. Angesichts der Mängel griff Müller ein. Er bemühte sich persönlich darum, dass etwa die medizinische Versorgung auf dem Gelände besser wurde. Und versprach, dass Bearbeiter eingestellt würden. Inzwischen ist die Caritas vom Land Berlin engagiert worden, um am Lageso Hilfe zu leisten. Um das Amt zu entlasten, wurden andere Registrierungsstellen eingerichtet. Also warten Flüchtlinge hier seltener auf die Erstregistrierung, sondern als Terminkunden.
Flüchtlingshelfer in Berlin:"Das ist eine Farce"
Seit Monaten versorgen Freiwillige Flüchtlinge vor dem Lageso in Berlin. Der Regierende Bürgermeister Müller möchte sie im Roten Rathaus ehren. Warum sie den Empfang boykottieren, erklärt Diana Henniges von "Moabit hilft".
Allerdings sind weiterhin viel mehr Wartende da, als an einem Tag bewältigt werden können. Um die Registrierung der Flüchtlinge zu ermöglichen, habe man dort Personal konzentriert, erklärt eine Sprecherin des Senators. Das fehle jetzt - bei dramatisch gestiegenem Bedarf - bei der Betreuung. "Wohin man die Decke auch zieht, sie ist zu kurz", sagt die Sprecherin. Die Zahl der Flüchtlinge sei seit Anfang September um gut 200 Prozent angestiegen, das könne keine Behörde der Welt schnell bewältigen.
Aber warum wirkt alles so bedrückend schlecht organisiert? Ständig sind die Helfer von "Moabit hilft" von Flüchtlingen umringt, die ihnen hilflos ihre Klarsichthülle mit Behördenpapieren entgegenstrecken. "Es gibt viel guten Willen und ganz viele Ankündigungen, was alles besser werden soll, die dann aber nicht das Licht der Realität erblicken", kritisiert die Bezirksstadträtin Sabine Smentek (SPD).
Sie setzte sich wie viele kommunale Politiker für Verbesserungen ein, etwa, dass die Frauen und Kinder unter den nachts Wartenden in ein beheiztes Zelt können. Es bleibt das Koordinationsproblem. So richten sich die Blicke auf Sozialsenator Czaja. Der erinnert immer wieder daran, wie viele Flüchtlinge nach Berlin kommen, circa 750 täglich.
Anderswo kommen auch viele. Von Fortschritten war vergangene Woche in einer Erklärung seiner Behörde die Rede. Auch wolle man erreichen, dass "frühzeitiges Anstehen in der Regel keinen Vorteil mehr bringen" solle. Keiner will Bilder von Rempeleien und Familien, die nachts kampieren, um Hilfe zu bekommen. Den Flüchtlingen wird inzwischen erklärt, dass sie ihre Kinder nicht mitbringen müssten.
Besonders Schutzbedürftige sollen vorgezogen werden
Besonders Schutzbedürftige in der Warteschlange sollen durch Mitarbeiter der Caritas "identifiziert und vorgezogen werden". Aber die Kapazitäten dafür seien, sagt Diana Henniges von "Moabit hilft", angesichts der vielen Bedürftigen zu gering, darunter seien viele Schwangere, schwer Erkrankte. Inzwischen gibt es im Amt mehr Mitarbeiter. Vor dem Lageso ist davon wenig zu spüren. "Die Lage hat sich überhaupt nicht verändert", sagt der Flüchtlingsexperte der Berliner Linken, Hakan Taş.
Heikel ist die herausgehobene Stellung der Sicherheitskräfte. Über das Sicherheitspersonal an den Schlangen klagen Helfer und Flüchtlinge. Manche würden ihre Macht ausnutzen, Geld für einen schnelleren Zugang nehmen, klagen Helfer. Bewiesen ist nichts. Entsetzen löste jetzt ein Video aus, in dem ein Wachmann am Lageso üble rechtsextreme Tiraden äußerte. Der Mann verlor inzwischen seinen Job.
Der 24-jährige Syrer, der die Nacht durch am Lageso gestanden hatte, kommt an diesem Nachmittag ein Stück voran. Er habe nur einen neuen Termin bekommen, berichtet er, auch sei ihm viel Glück gewünscht worden. Zwei Wochen ist es her, dass Michael Müller, der Regierende Bürgermeister, sagte, solche Zustände wolle er nicht mehr sehen.