Die alte Frau hatte eben noch neben ihrem Sohn gestanden, drei, vier Meter entfernt. Sie waren auf die Straße gegangen, kurz nur, um ein paar Lebensmittel zu besorgen. Niemand hält sich in Debalzewe freiwillig länger als ein paar Minuten im Freien auf, das ist lebensgefährlich. Die gesamte Stadt, die auf drei Seiten von prorussischen Milizen eingekesselt ist, liegt unter permanentem Raketenbeschuss. Jeder Schritt ist lebensgefährlich. Nun ist der Sohn tot. Liegt unter einer weißen Plane, die Stiefel schauen heraus. Die alte Frau in ihrem weißen Fellmantel sinkt zu Boden, einer Ohnmacht nahe. "Das war mein Sohn, das war mein Sohn", ruft sie. Irgendjemand führt sie weg.
25 000 Einwohner hatte Debalzewe. Die Industriestadt befindet sich in direkter Luftlinie zwischen den Hauptstädten der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Eine wichtige Versorgungsstraße und ein Eisenbahnknotenpunkt machen Debalzewe strategisch interessant.
20 Busse für Tausende Zivilisten
Nun liegt alles in Trümmern. Die ukrainische Armee hat Tausende Soldaten hier konzentriert, Gräben ausgehoben und Wälle aufgeworfen. Das benachbarte Dorf Wulehirsk ist schon verloren, von dort beschießen die Separatisten über zehn Kilometer hinweg alles, was sich bewegt. An diesem Freitag haben sich beide Seiten auf einen "humanitären Korridor" geeinigt. Wieder einmal. Bis zum Nachmittag sollten in 20 Bussen Zivilisten hinausgefahren werden. 20 Busse für Tausende Zivilisten.
Kiew will die Stadt und das umliegende Terrain halten, unbedingt, schon wegen der aktuellen Verhandlungen mit Moskau und womöglich drohender Forderungen, umkämpfte Gebiete zu räumen. Der Landstrich um Debalzewe ragt geografisch wie ein Beutel nach Süden in Separatistengebiet hinein. Heraus - Richtung Artemisk - kommt man über eine Brücke. "Links stehen Separatisten, rechts stehen Separatisten. Immer, wenn das Feuer abnimmt, rasen Autos und Zivilfahrzeuge über den schmalen Zubringer in die Stadt", berichtet der Jurist Valentyn Onyschtschenko am Telefon. Es gab bereits zuvor Abmachungen zwischen den Konfliktparteien, den Korridor nach Norden hin offen zu lassen, aber nicht immer haben sich die beiden Seiten daran gehalten. Der junge Mann bestätigt durch puren Augenschein, was die Strategen in Kiew wissen: Wenn es den übermächtigen prorussischen Milizen gelänge, diesen Beutel im Norden zu schließen, wären etwa 8000 Soldaten und unzählige Zivilisten eingekesselt. Wahnsinn?
"Karman" (Tasche) nennt General Leonid Golopatjuk das, was es da zu verteidigen gilt. Er ist im Kiewer Verteidigungsministerium für Internationales zuständig, hat in Moskau studiert, in den USA gearbeitet. Debalzewe, sagt er, sei mittlerweile so sehr zum Symbol geworden wie der Flughafen von Donezk. Der Flughafen war monatelang umkämpft gewesen. Vor wenigen Wochen, als die Separatisten nach der Weihnachtspause wieder in die Offensive gingen, mussten ukrainische Truppen ihn aufgeben. Heute ist er eine Ruine, ein zertrümmertes Wahrzeichen des Krieges, der mittlerweile mehr als 5000 Tote gefordert hat - die russischen Opfer, die es offiziell nicht gibt, nicht eingerechnet.
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"Es gibt keine Guten mehr, nur noch Verbrecher": Die Menschen in der Ostukraine sind traumatisiert. Hier eine Wasserausgabe in einem Dorf bei Donezk.
Bild: Dominique Faget/AFP -
Niemand hält sich in Debalzewe freiwillig länger als ein paar Minuten im Freien auf. Hier bewacht ein Soldat die Essensausgabe an Bewohner.
Bild: Petr David Josek/AP -
Tausende sitzen in Kellern fest, ganze Familien, ohne Strom und Heizung. Viele kochen über offenem Feuer.
Bild: Gleb Garanich/Reuters -
2000 Menschen konnten bisher in den wenigen Feuerpausen aus Debalzewe gebracht werden. Aber viele Fahrzeuge werden beschossen.
Bild: Gleb Garanich/AP -
Vor den paar Bussen, die die Einwohner aus der Stadt fahren sollen, herrscht Andrang. In der Stadt leben noch Zehntausende Zivilisten.
Bild: Gleb Garanich/Reuters -
Die Opfer in der Zivilbevölkerung? Krieg sei Krieg, sagt ein Armeesprecher. Die Sicherheit der Soldaten sei wichtiger als die Evakuierung der Region.
Bild: Volodymyr Shuvayev/AFP -
Schon viel zu viel Terrain sei an die Separatisten verloren gegangen, heißt es aus dem Außenministerium. Hier eine eroberte Armeestellung bei Donezk.
Bild: /Gleb Garanich/AP
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Der Kessel von Ilowaisk ist ein anderes Beispiel für eine blutige Niederlage der ukrainischen Truppen vor einigen Monaten. Taktische Fehler und mangelnde Ausrüstung, heißt es, seien die Gründe gewesen, dass Hunderte in Gefangenschaft gerieten, Hunderte starben. Ein Menetekel.
Nun will die Generalität in Debalzewe zeigen, dass es auch anders geht. Und die Opfer in der Zivilbevölkerung? Krieg sei Krieg, sagt ein Armeesprecher. Die Sicherheit der Soldaten sei gegenwärtig wichtiger als die Evakuierung der Region. Wenn Debalzewe aufgegeben werde, dann sei das ein Signal für die Unfähigkeit, für die Schwäche der ukrainischen Armee, argumentiert General Golopatjuk. Außerdem füge man auch den prorussischen Milizen gewaltige Verluste zu, die Sache sei also "nicht aussichtslos". Viele erfahrene Kräfte seien hier stationiert, sagt er und bemüht sich, siegessicher zu klingen: Man setze die Separatisten im Westen, im Süden und im Osten massiv unter Druck. Die Ukrainer dürften das Gebiet nicht aufgeben, aus strategischen und aus moralischen Gründen.