Konflikte:Nach Krieg mit Russland: Georgien zwischen den Stühlen

Lesezeit: 4 min

An einer Hauswand in einem Viertel der Hauptstadt Tiflis stehen auf Englisch und auf Ukrainisch antirussische Parolen, die den Krieg von Kremlchef Wladimir Putin gegen die Ukraine verurteilen. (Foto: Ulf Mauder/dpa)

15 Jahre nach dem Krieg mit Russland sieht Georgien weiter ein Fünftel seines Gebiets besetzt. Das Land hofft auf eine EU-Mitgliedschaft. Aber die Regierung arrangiert sich zunehmend wieder mit Moskau.

Von Ulf Mauder, dpa

Tiflis (dpa) – Die Hassparolen gegen Russen und vor allem gegen Kremlchef Wladimir Putin springen Besuchern auf den Straßen der georgischen Hauptstadt Tiflis an vielen Stellen in den Blick.

Russland ist ein Terrorstaat“, steht an einer Wand. Auch die blau-gelben Flaggen der Ukraine sind allgegenwärtig. Weil die Südkaukasusrepublik vor 15 Jahren – vom 8. bis 12. August 2008 – selbst einen Krieg mit Russland erlebte, ist die Solidarität hier besonders groß mit der Ukraine. Zugleich gewährt Georgien heute auch vielen Russen, die vor Putins Kriegsdienst geflohen sind, Zuflucht.

Und auch Touristen kommen zu Zehntausenden in die für ihre kaukasische Küche, Wein, Berge und Strand bekannte Schwarzmeerregion. Die Regierung des eigentlich in die EU strebenden Landes wendet sich trotz der Kriegserfahrung heute wieder stärker Moskau zu - zum Ärger des Westens und vieler Menschen im Land. „Die Gesellschaft ist völlig gespalten“, sagt der Soziologe Iago Katschkatschischwili bei einem Treffen in seinem Institut in Tiflis (Tbilissi). „Die Mehrheit will in die EU, aber viele verstehen kaum, dass der Weg lang ist.“

Gespaltene Gesellschaft

Wer auf den Straßen von Tiflis unterwegs ist, trifft viele Menschen die enttäuscht sind, dass die EU etwa den seit langem in Aussicht gestellten Status als Beitrittskandidat weiter verwehrt. Dabei drängen vor allem junge Georgier nach Europa, wie der jüngste Europatag im Mai zeigte. Dennoch lähmt es das Land, dass nach dem Krieg mit Russland die Regionen Südossetien und Abchasien - das sind 20 Prozent des Staatsgebiets - weiter unter Moskaus Kontrolle stehen.

Zwar kocht immer die Wut hoch über Russland, das die Regionen als unabhängige Staaten anerkannt hat. Aber es gibt eine Tendenz, sich mit dem Feind als großem und mächtigem Nachbarn zu arrangieren. Besonders deutlich wird das beim Tourismus. Putin ließ im Mai wieder Direktflüge zwischen beiden Ländern zu - erstmals seit 2019. Er hob den Visa-Zwang für Georgier auf, was nun Besuche in Russland vereinfacht.

Die prowestliche Präsidentin Salome Surabischwili, die kaum Machtbefugnisse hat, warnte damals vor Versuchen Russlands, seinen Einfluss in dem früheren Imperium wieder auszuweiten. Das alles sei „inakzeptabel, solange Russland seine Aggression in der Ukraine fortführt und unser Staatsgebiet besetzt hält“, sagte sie. Auch die US-Botschaft und die EU unterstützten die Position.

Doch die georgische Führung sieht das anders, wie sie auch gerade wieder deutlich machte, als es in der Glitzermetropole Batumi am Schwarzen Meer kleinere antirussische Proteste gab. Anlass der Kundgebung war, dass ein Kreuzfahrtschiff aus der russischen Stadt Sotschi in Batumi anlegte. Die Regierungspartei Georgischer Traum (GD) kritisierte die Opposition wegen „Stimmungsmache“ gegen die Gäste. Es könne doch bei ein paar Gästen des Nachbarlandes von einer Expansion Russlands keine Rede sein.

Wirtschaftlich von russischen Touristen abhängig

GD-Chef Irakli Kobachidse erinnerte auch daran, dass das Land von georgischer Gastfreundlichkeit lebe. „Wenn nach Georgien keine russischen Touristen kommen, verliert das Land rund eine Milliarde US-Dollar im Jahr“, sagte er. Das sind 910 Millionen Euro. Der Chef der größten Oppositionspartei Vereinigte Nationale Bewegung, Lewan Chabeischwili, hingegen ätzte, der Gründer der Regierungspartei und Oligarch Bidsina Iwanischwili, der von seiner Villa die Stadt überschauen kann, habe ein „russisches Regime“ geschaffen.

Iwanischwili, der selbst einmal Regierungschef war, trat einst an, um Armut und Perspektivlosigkeit in Georgien zu besiegen. Ein Durchschnittslohn von rund 1200 Lari (rund 400 Euro), Arbeitslosigkeit von offiziell 13 Prozent - aber tatsächlich eher bei über 30 Prozent, wie der Soziologe Katschkatschischwili sagt - zeugten aber von anhaltenden Problemen. Der Experte sieht darin auch einen Grund, weshalb Russlands wirtschaftliche Angebote bei vielen verfangen.

Russland ist wichtiger Absatzmarkt für georgischen Wein. Georgien gilt auch als ein Weg für Russland, Waren unter Umgehung der EU-Sanktionen einzuführen. Vor Russlands Grenzen in Richtung seiner Metropole Wladikawkas bilden sich lange Lastwagenschlangen. Zugleich haben die vielen russischen Investoren und Touristen zur Stabilisierung der georgischen Währung Lari beigetragen.

Regierung wird „prorussischer“

Georgiens Regierung tritt zwar weiter nach außen immer wieder proeuropäisch auf. „Aber sie tut nichts für einen EU-Kurs, wird vielmehr immer prorussischer“, sagt Katschkatschischwili. „Ausgeprägt sind nationalistische Tendenzen, die Führung beruft sich auf Traditionen und Geschichte unserer alten Zivilisation.“ Der Westen werde als Lehrmeister abgelehnt.

Dabei sieht der Experte auch die georgisch-orthodoxe Kirche als treibende antiliberale Kraft und wichtige Machtstütze der Regierung. Zu sehen war das in diesem Sommer, als Kirchenanhänger und Ultranationalisten einmal mehr mit roher Gewalt gegen eine Pride-Veranstaltung für mehr Toleranz gegenüber Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Menschen (LGBT) vorgingen.

Auch andere europäische Errungenschaften wie ein Mindestlohn und weitere Arbeitnehmerrechte sowie eine unabhängige Justiz seien nicht in Sicht, sagt der Soziologe. „Das Gerichtssystem ist völlig korrupt, dient den Interessen der Politik.“ Dabei sieht der Experte in der Gesellschaft eine große Mehrheit, die die Politik des Kreml ablehne.

Einer, der gegen eine neue russische Dominanz und für eine Zukunft in der EU kämpft, ist der Oppositionspolitiker Giga Bokerija, einst Chef des Nationalen Sicherheitsrates unter dem inzwischen inhaftierten Ex-Präsidenten Michail Saakaschwili. „Bei uns läuft heute eine Dämonisierung des Westens. Die Regierungspartei tut so, als gäbe es nur die Wahl, sich mit Russland gutzustellen – oder einen neuen Krieg zu riskieren“, sagt der 51-Jährige bei einem Treffen in Tiflis.

„Es kann aber keinen Deal mit Putin geben, wenn wir als Land unsere Würde behalten wollen“, betont Bokerija. Vor der Parlamentswahl im nächsten Jahr will er eine neue proeuropäische Koalition schmieden. „Das ist die historische Chance für eine Bewegung Richtung Europa, was für uns die einzige richtige Zivilisation ist. Wenn sich nichts bei der nächsten Wahl ändert, dann wird das ein Desaster.“

© dpa-infocom, dpa:230803-99-675742/5

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: