Marburg:Forscher: Verrohung in Kommunalpolitik Gefahr für Demokratie

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Anfeindungen gegen Kommunalpolitiker verringern nach Einschätzung des Demokratiezentrums der Uni Marburg die Bereitschaft für Engagement in diesem Bereich. "Es...

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Marburg/Mühlheim/Wiesbaden (dpa/lhe) - Anfeindungen gegen Kommunalpolitiker verringern nach Einschätzung des Demokratiezentrums der Uni Marburg die Bereitschaft für Engagement in diesem Bereich. „Es ist sehr besorgniserregend, dass sich immer mehr Menschen nicht auf kommunalpolitischer Ebene engagieren wollen, weil eine Verrohung stattgefunden hat“, erklärte Leiter Reiner Becker. Beleidigung, Beschimpfung und Bedrohung der ehrenamtlich Tätigen gehörten offenbar für viele Menschen zum normalen Ton. Becker sieht ein „stetiges Überschreiten von roten Linien“, das die Demokratie gefährde.

Der Hessische Städte und Gemeindebund (HSGB) teilt die Einschätzung. „Eine konsequentere Strafverfolgung ist nur ein Herumdoktern an den Symptomen“, sagte HSGB-Direktor Karl-Christian Schelzke. Man brauche eine zivilgesellschaftliche Antwort. „Wir brauchen Menschen, die sagen: So geht es nicht“, erklärte er. Hass und Hetze gegen Kommunalpolitiker im Internet sollte auch nicht unbeantwortet bleiben. „Kommunen sollten sich zusammenschließen und in Soziale Netzwerke hineingehen“, sagte Schelzke. Denkbar sei beispielsweise eine Art Faktencheck, mit dem die Städte und Gemeinden auf falsche Behauptungen reagierten.

Auch das Klima innerhalb einiger Kommunalparlamente trage zur Verrohung bei. So sei politisches Konkurrenzverhalten in Ordnung, Feindseligkeit nicht. „Damit öffnen sie rechts die Tür, die haben damit kein Problem“, erklärte Schelzke. Er befürchtet, dass es in Zukunft nicht genug Bewerber für kommunale Ämter geben könnte.

Die Erfahrungen von Hessens Parteien sind sehr unterschiedlich. „Die SPD ist, vieler Unkenrufe zum Trotz, eine Volkspartei mit breiter Verankerung in der Gesellschaft“, sagte SPD-Generalsekretär Christoph Degen. Im Main-Kinzig-Kreis beispielsweise habe man in der Regel genug Bewerber für Listen und kommunale Ämter. Insgesamt engagierten sich aber weniger Menschen in Parteien. Die SPD sieht eine „massive Zunahme“ von Bedrohungen, häufig aus dem rechten Spektrum. „Ich erwarte von Seiten der Landesregierung, dass sie sich stärker um die ehrenamtlichen Kommunalpolitikerinnen und -politiker kümmert und ihnen mehr zur Seite steht, so wie es beispielsweise in unserem Nachbarbundesland Rheinland-Pfalz der Fall ist.“ Dort habe das Innenministerium eine Hotline für solche Fälle eingerichtet.

„Grundsätzlich finden sich in der CDU genug Kandidaten, die ein kommunales Amt übernehmen möchten“, erklärte Deliah Eckhardt, Sprecherin der CDU Hessen. Gerade in den größeren Städten und für die Kreistage gebe es keinen Mangel. In kleinen Gemeinden gestalte sich die Suche nach Bewerbern zum Teil schwieriger, was jedoch mit dem prozentualen Verhältnis von Einwohnern zu Gemeindevertretern zu begründen sei. Es sei für politische Parteien schwieriger geworden, Menschen zu finden, die sich in ihrer Freizeit ehrenamtlich engagierten. Die Anforderungen an die Kommunalpolitik werden komplexer, deshalb unterstütze die CDU Hessen die Ehrenamtlichen mit einem breiten Fortbildungsangebot.

„Auch wir erleben, dass insbesondere Rechte versuchen, den politischen Gegner einzuschüchtern - auch mit Gewalt“, sagte Michael Müller, Sprecher der Linken. Diesem Terror gelte es konsequent entgegenzutreten. Jedoch gebe es noch keinen Kommunalpolitiker im Landesverband, der deswegen zurückgetreten sei oder nicht mehr kandidiere. „Unser Eindruck ist auch, dass der Anteil unserer Mitglieder, die sich vorstellen können für ein kommunales Mandat zu kandidieren, in etwa gleich geblieben ist.“ Ein kommunalpolitisches Mandat sei zeitaufwendig und könne oft nicht in Einklang mit dem Beruf und der Familie gebracht werden.

Die AfD habe großes Interesse, geeignete Personen für Kandidaturen zu gewinnen, erklärte AfD-Landessprecher Klaus Herrmann: „Dass das nicht einfach wird, ist auch der Tatsache geschuldet, dass AfD-Mitglieder mit beruflichen und gesellschaftlichen Nachteilen rechnen müssen.“ Dazu komme das Risiko der Bedrohung oder Anfeindung. Das führe dazu, dass die AfD derzeit flächendeckend nur für die Kreistage und darüber hinaus nur für einzelne Stadt- und Gemeindeparlamente Kandidatenlisten aufstellen könne. Die Partei sieht aber noch eine andere Ursache für fehlende Bewerber: „Generell dürfte ein Hauptgrund in der zunehmenden Politikverdrossenheit liegen.“ Diese habe ihren Ursprung im Verlust von politischer Glaubwürdigkeit, bürgerfernen Entscheidungen und politischer Überheblichkeit der anderen Parteien.

„Insbesondere in den ländlicheren Regionen stehen wir vor der Herausforderung, Bürgerinnen und Bürger und besonders Mitglieder für die Kommunalpolitik zu begeistern“, erklären Sigrid Erfurth und Philip Krämer, Landesvorsitzende der Grünen. Man sehe die Herausforderung darin, Interessierten darzulegen, warum es lohnenswert sei, sich ehrenamtlich in der Kommunalpolitik zu engagieren. Die Entwicklung zunehmender Anfeindungen, insbesondere im Internet betrachte man mit großer Sorge. In der Tat könne das auf zukünftige Kommunalpolitiker abschreckend wirken.

„In der FDP finden sich grundsätzlich ausreichend Kandidaten, die bereit sind, sich in Städten und Gemeinden einzubringen“, erklärte dagegen Moritz Promny, Generalsekretär der Freien Demokraten in Hessen. Wer sich in der Mitte der Gesellschaft engagieren wolle, finde bei den Freien Demokraten eine Heimat. „Ein weiterer Grund für die positive Entwicklung bei der FDP ist, dass wir neue Leute an die Hand nehmen“, erklärt Promny. Angeboten werden Neumitglieder-Treffen, Kampagne-Camps und programmatische Tage.

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