Gera:AfD-Mann führt Stadtrat, Experte: Mauer zur AfD bröckelt

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Reinhard Etzrodt (AfD) steht in der Innenstadt. (Foto: Bodo Schackow/dpa-zentralbild/dpa)

Thüringens drittgrößte Stadt Gera sorgt als AfD-Hochburg wieder einmal für Aufsehen. Schafften es die Rechtspopulisten vor zwei Jahren mit ihrem Kandidaten bis...

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Gera (dpa) - Thüringens drittgrößte Stadt Gera sorgt als AfD-Hochburg wieder einmal für Aufsehen. Schafften es die Rechtspopulisten vor zwei Jahren mit ihrem Kandidaten bis in die Stichwahl um den Posten des Oberbürgermeisters, konnten sie nun den Vorsitz des Stadtrats erobern. 23 von 40 Stimmen erhielt AfD-Kandidat Reinhard Etzrodt am Donnerstagabend bei der geheimen Abstimmung - deutlich mehr als die AfD-Fraktion Sitze im Stadtrat hat (12).

Die Wahl wirft einmal mehr Fragen zum Umgang mit den Rechtspopulisten auf. So warnt der Jenaer Soziologe Klaus Dörre, dass von kommunaler Ebene aus die Mauer zur AfD Stück für Stück bröckle und Zusammenarbeit hoffähig werde.

Die Empörung über die Abstimmung im Geraer Stadtrat jedenfalls schlug hohe Wellen über Thüringen hinaus. „Für die Menschen in Gera und für Geras Wirkung nach außen ist dies ein verheerendes Signal“, sagte der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, Christoph Heubner, am Freitag. Die Wahl müsse „Überlebenden von Auschwitz wie Hohn in den Ohren klingen“.

Der Vorstandsvorsitzende der Mobilen Beratung gegen Rechts, Sandro Witt, warf den Stadträten vor, „ohne Not“ einen AfD-Mann zum Vorsitzenden gewählt zu haben. Sie nähmen damit entweder die Gefährlichkeit der extremen Rechten nicht wahr oder entschieden sich sogar bewusst. „Beides ist fatal.“

Vor allem aus den Reihen von Rot-Rot-Grün wurde der CDU vorgeworfen, mit der AfD zu kooperieren. „Das ist auch einen Tag später nicht zu fassen“, schrieb Umweltministerin Anja Siegesmund (Grüne) auf Twitter. Die Thüringer CDU müsse erklären, wie sie „gemeinsame Sache mit Demokratieverächtern“ machen könne. Ähnlich hatte sich zuvor Linke-Landeschefin Susanne Hennig-Wellsow geäußert. CDU-Landeschef Christian Hirte wies die Vorwürfe entschieden zurück: „Die CDU hat sich in der Fraktion klar darauf verständigt, den AfD-Kandidaten nicht zu wählen.“ Genau so sei dies auch erfolgt.

Soziologe Dörre, der an der Universität Jena auch zu Rechtspopulismus forscht, hat da erhebliche Zweifel. „Gera ist kein Einzelfall“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Es gebe inzwischen zahlreiche Beispiele von Zusammenarbeit zwischen AfD und anderen Parteien - vor allem der CDU - auf kommunaler Ebene. Nicht nur in Thüringen, auch in anderen Bundesländern. „Damit wird in Kauf genommen, dass es auch auf anderen Ebenen hoffähig wird, mit der AfD zu kooperieren.“ Letztlich sei das die Strategie der AfD: Von den Dörfern, vom Land aus die Zentren zu erobern, warnte Dörre.

Gera ist mit knapp 93 000 Einwohnern Thüringens drittgrößte Stadt und stemmt sich seit Jahren gegen den Niedergang. Zuletzt hatte die Kommune, die stets zu den Schlusslichtern in der Arbeitslosenstatistik des Freistaates gehört, etwa mit einer Bewerbung als Europäische Kulturhauptstadt von sich reden gemacht, kam aber nicht in die nächste Runde.

Und die AfD frohlockt hier schon seit Jahren bei Wahlen. So schickte Gera bei der letzten Landtagswahl als einzige kreisfreie Stadt Thüringens einen direkt gewählten AfD-Mann nach Erfurt. An die 30 Prozent der Stimmen holen die Rechtspopulisten inzwischen regelmäßig. Bei der Kommunalwahl im Mai 2019 waren es 28,8 Prozent - seither ist die AfD stärkste Fraktion im Stadtrat.

Laut Hauptsatzung der Stadt steht ihr damit das Vorschlagsrecht für den Stadtratsvorsitz zu. Doch daran, ob diese Regelung rechtens ist, gab es in den vergangenen Monaten Zweifel. Deswegen war die Wahl immer wieder verschoben worden. Nach 15 Monaten Hängepartie wurde nun Etzrodt, ein Arzt im Ruhestand, an die Spitze des Gremiums gewählt. AfD-Fraktionschef Harald Frank sagte der dpa, es habe mit anderen Fraktionen im Vorfeld keine Absprachen zum Wahlverhalten gegeben.

Wirtschaftsminister und SPD-Landeschef Wolfgang Tiefensee (SPD) monierte, dass CDU und AfD schon zuvor im Stadtrat zusammengearbeitet hätten. Drei gemeinsam von ihnen unterschriebene Anträge sprächen eine eindeutige Sprache, schrieb er auf Twitter. Ähnliche Fälle sind andernorts bekannt - auch von Tiefensees SPD. So hatte im August im südthüringischen Hildburghausen die SPD-Stadtratsfraktion zusammen mit der dortigen AfD-Fraktion agiert.

Auf Twitter wurde derweil daran erinnert, dass Anfang März Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) als Abgeordneter im Landtag dem AfD-Kandidaten für den Posten des Vizepräsidenten, Michael Kaufmann, seine Stimme gegeben hatte. Ramelow quittierte den Hinweis prompt: „Ist Ihnen der Unterschied zwischen einem Vizepräsidenten und einem Vorsitzenden wirklich so unklar?“

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