Kommentar:Diese Türkei kann kein Mitglied der EU sein

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Kurdische Demonstranten zogen am Freitag in einer spontanen Kundgebung durch die Innenstadt von Frankfurt am Main, um gegen die Politik des türkischen Staatschfes zu protestieren. (Foto: dpa)

Präsident Erdoğan entwickelt sein Land hin zur Despotie. Für die EU und Deutschland hat das bittere Konsequenzen: Die Hoffnung auf eine westlich-liberale Türkei ist derzeit verloren.

Kommentar von Kurt Kister

So wie die Türkei heute regiert wird, gehört sie weder in die Europäische Union, noch ist sie Teil einer Wertegemeinschaft, die sich über Menschenrechte, Pluralismus und die Freiheit des Individuums definiert. Das ist bitter, auch weil die große Vision des Staatsgründers Kemal Atatürk darin bestand, sein Land zu öffnen, dem Westen anzunähern, die Despotie zur Demokratie zu entwickeln. Dies geschah langsam, mit vielen Rückschlägen, stets unter Kuratel einer autoritär denkenden Offizierskaste, auch unter der Bedrohung des bis ins Terroristische gehenden Kampfes vieler Kurden gegen den Zentralstaat. Und dennoch: Um die Jahrtausendwende hatte sich die Türkei wie nie zuvor an die EU angenähert; man konnte hoffen, dass die EU mit der Türkei eine wichtige Erweiterung erfahren würde - geografisch, intellektuell und historisch.

Dies alles ist verloren, zumindest auf absehbare Zeit. Staatspräsident Erdoğan dreht Atatürk zurück. In der Reaktion auf den Putschversuch wird die Demokratie Schritt für Schritt wieder zur Despotie. Erdoğan hat die Meinungsfreiheit abgeschafft; Zehntausende wurden anhand von Listen verhaftet, die vor dem Putsch angelegt worden waren; der Krieg im Südosten eskaliert. Gerade wurden elf Abgeordnete der oppositionellen HDP-Partei eingekerkert, darunter die Parteichefs.

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Die beiden Politiker waren in der Nacht im Rahmen einer "antiterroristischen Operation" festgenommen worden.

Der Putsch scheint Erdoğan zum Instrument geworden zu sein

Die gezielte Demontage von Freiheit und Rechtsstaat erweckt den Eindruck, dass der Putsch für den Präsidenten längst zu einem Instrument geworden ist, mit dem er alle Ziele durchsetzt, die er vorher so nicht hätte durchsetzen können. Erdoğan arbeitet auf ein präsidentielles System mit autoritärem Charakter hin; er will eine Türkei mit einer einzigen Staatspartei unter dem Präsidenten, die von einem repressiven Sicherheitsapparat kontrolliert wird. Es ist der klassische Ausnahmezustands-Staat, der die stetige Präsenz von Feinden aller Art braucht, weil er nur im Konflikt existieren kann.

Man kennt das Muster aus der jüngeren Geschichte: Chile nach Allende oder Griechenland unter den Obristen waren solche Ausnahmezustands-Staaten. Dies nährt einerseits die Hoffnung, dass es auch in der Türkei, schon allein wegen der gewachsenen Zivilgesellschaft, wieder anders werden kann; in Chile oder Griechenland ist dies gelungen. Andererseits ist zu befürchten, dass sich Erdoğan bewusst oder unbewusst China zum Vorbild nimmt. Dort regiert eine despotische Partei, die aber jenseits des Politischen manches an Möglichkeiten zulässt.

Kooperation kann nötig sein, Appeasement aber ist verboten

Auch für Europa, speziell für Deutschland, ist dieser Zustand problematisch. Das hängt damit zusammen, dass Millionen türkischstämmige Menschen hierzulande leben. Andererseits gibt es politische Probleme, denen man nicht begegnen kann, ohne mit der Türkei bis zu einem gewissen Grad zu kooperieren. Das betrifft die Flüchtlingssituation, aber auch die Kriege und Konflikte vom Kaukasus bis in den Irak.

Je mehr sich die Türkei zur Despotie wandelt, desto weniger kann sie "Partner" sein. Politische Kooperation ist dennoch möglich, Interessenabwägung nötig, Appeasement aber verboten. Dies muss man deutlich machen. Ein Beispiel: Die Visapflicht für türkische Staatsbürger kann durchaus aufgehoben werden; die EU-Beitrittsverhandlungen allerdings sollten jetzt abgebrochen werden.

© SZ vom 05.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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