Derzeit hilft es mir nicht, Geschichtsbücher zu lesen. Im Gegenteil: Es ist grauenhaft. Der türkische Präsident hat kürzlich den Mund noch voller genommen und die aktuellen Grenzen der Türkei sowie die Gültigkeit des Vertrags von Lausanne aus dem Jahr 1924 in Frage gestellt. Seitdem zeigen die türkischen Medien neue Landkarten, die Mossul und den Nordosten Griechenlands als Teil des türkischen Großreichs darstellen.
Parallelen zur deutschen Verbitterung über den Friedensvertrag von Versailles und zum Aufstieg eines aggressiven und kriegshungrigen Nationalismus drängen sich auf. Ich habe mit Entsetzen William Sheridan Allens Buch "Das haben wir nicht gewollt" gelesen, diese mikroskopische Studie über die Stadt Northeim und ihre nationalsozialistische Entwicklung bis zum Zweiten Weltkrieg. Für mich ist daran besonders erschreckend, wie schnell es damals ging, bis der Alptraum anfing.
Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt regelmäßig Gastbeiträge. Deutsch von Jonathan Horstmann.
Die europäischen Staatschefs und die EU-Kommission wollen es wohl nicht zugeben, viele von ihnen sind von der Illusion der Realpolitik geblendet. Aber die Realität in der Türkei ist voller bedenklicher Signale, die sich täglich weiter auftürmen. Der Irredentismus, der vom Großreich eines Volkes über heutige Grenzen hinweg träumt, mag nur langsam vor sich hinschwelen; aber einer weiteren aktuellen Entwicklung sollte man größte Aufmerksamkeit schenken: der Ankündigung der massenhaften Aufrüstung der Regierungspartei AKP.
Schon einige Tage nach dem vereitelten Putsch am 15. Juli war der Plan geboren, die Partei in bewaffnete Streitkräfte zu verwandeln. Mit dem Slogan "Nie wieder!" erklärten einige Funktionäre, dass die Ausrüstung der Bürger notwendig sei, um weitere Putschversuche abzuwehren. Unter ihnen war Şeref Malkoç, ein wichtiger Berater Präsident Erdoğans. Er kündigte an, dass "registrierte Schusswaffen an die Bürger verteilt" würden.
Die einer Miliz ähnelnde Organisation "Osmanische Einheit 1453", deren Name sich auf das Datum der Eroberung Konstantinopels bezieht, sprach schnell ihre Unterstützung aus, nachdem der Hashtag #AKSilahlanma (AKAufrüstung) in den sozialen Netzen aufgetaucht war. Ihr Anführer Emin Canpolat schrieb: "Dies ist ein Aufruf an alle Brüder. Bewaffnet Euch für das Vaterland, für die Flagge und für Erdoğan" und fügte hinzu: "Wir werden sterben und töten für Erdoğan." Der Hashtag verbreitete sich schnell. Im Netz hieß es: "Wir sind bereit, bis aufs Blut zu kämpfen. Das Märtyrertum ist unser heiliges Ziel!"
Überall werden Waffen verteilt. Steht die Türkei kurz vor dem Bürgerkrieg?
Die Osmanische Einheit ist eine recht neue Organisation. 2009 gegründet, wurde sie bekannt, als sie die Redaktion der Tageszeitung Hürriyet nach den Wahlen vom 7. Juni 2015 angriff und verwüstete. Sie benennt ihre Ziele deutlich: "Religiöse Generationen heranziehen; einen am Koran orientierten Lebensstil wiederbeleben; sich für die Wiedereinführung des Kalifats einsetzen; die Hagia Sophia wieder als Moschee eröffnen" und so fort.
Die Pro-Regierungs-Journalisten unterstützen diesen Trend eifrig. Abdullah Şanlıdağ, ein Kolumnist der antisemitischen und antiwestlichen Tageszeitung Yeni Akti, schreibt: "Habt keine Angst vor diesem Staat! Denn er weiß genau, wer getötet werden muss."