Koalitionsverhandlungen:Vertrauen in die Hinterzimmer

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Die Koalitionsverhandlungen beginnen. Doch wie demokratisch sind die überhaupt? Die Wähler werden nicht mehr gefragt. Am Ende haben nicht sie entschieden, sondern die Strategen der Parteien.

A. Zielcke

Der Moment war verräterisch. Am Sonntagabend wurde Guido Westerwelle in der Elefantenrunde von einem der beiden Moderatoren gefragt, ob es bei den Wahlaussagen der FDP bleibe - zum Beispiel bei der Aussage, dass es mit der FDP keine Koalition geben werde, die an dem Gesundheitsfonds festhalte.

Noch ist der Plenarsaal des Bundestages im Berliner Reichstagsgebäude leer. Das wird er auch die nächsten Tage bleiben. Denn bevor die neuen Volksvertreter in den Saal einziehen werden, finden sich einige von ihnen in anderen, weniger sichtbaren Räumen ein, um dort das Programm der neuen Regierung unter sich auszuhandeln. (Foto: Foto: AP)

Westerwelle wand sich um die Antwort herum und belehrte den Moderator, die Runde und das Fernsehpublikum, dass dies nicht der Moment sei, in Koalitionsverhandlungen einzutreten, schon gar nicht vor aller Augen. Man werde wie stets nach einer Wahl solche Verhandlungen führen und das Ergebnis, den Koalitionsvertrag, "aufschreiben". Bis dahin also keine Erklärung, keine Bestätigung der Wahlaussage.

Das klingt nach dem gewohnten Taktieren nach jeder Wahl, in der das Wahlergebnis die Parteien zu einer Koalition zwingt. In der Tat kann man Westerwelles Reaktion primär dem vernünftigen Pragmatismus zurechnen, den die deutsche Nachkriegspolitik nach und nach mit unbestreitbaren Erfolgen ausgeprägt und eingeübt hat. Er gehört wie in allen westlichen Ländern zum Kanon der politischen Tugenden. Warum sich jetzt exponieren, wo man ohnehin Kompromisse mit dem politischen Partner eingehen muss?

Wie in allen westlichen Ländern? Ist es wirklich selbstverständlich, dass die Wähler ihre Wahl treffen, ohne über das Programm der neu antretenden Regierungskoalition mitzuentscheiden? Welche Gesundheitspolitik haben die FDP-Wähler, aber auch die Unionswähler gewählt angesichts einer definitiven Wahlaussage der FDP auf der einen Seite und dem nun eingeleiteten offenen Verhandlungsprozess von Union und Liberalen auf der anderen? Oder allgemein: Welches Regierungsprogramm haben die Wähler am Sonntag in Deutschland eigentlich in Auftrag gegeben?

Nicht zufällig hat die englische Financial Times letzte Woche die nur auf den ersten Blick polemische Frage gestellt, ob die Wahlen in Deutschland überhaupt demokratisch seien. Anlass war nicht nur die Bundestagswahl, sondern auch die Hängepartie der vorausgegangenen Landtagswahlen, vor allem im Saarland und in Thüringen. In keinem der beiden Länder lässt sich erkennen, ob die eines Tages eingesetzten Regierungen irgendetwas zu tun haben mit einem spezifischen Regierungsauftrag der Wähler.

Noch mehrere Wochen nach der Wahl der beiden Landtage müssen hier die Wähler einen seltsamen Prozess der Regierungsbildung beobachten. Im Saarland haben die links von der Mitte stehenden Parteien 51,7 Prozent der Stimmen, die rechts davon stehenden 43,7 Prozent erhalten. Wäre eine Ampelkoalition, die zur Zeit durchaus noch denkbar ist, mit dem Wählervotum vereinbar? Oder muss es auf eine rot-rot-grüne Mannschaft hinauslaufen? Welche demokratische Legitimation haben die Grünen als Zünglein an der Waage, für die eine oder andere Variante - die sich programmatisch so erheblich unterscheiden - den Ausschlag zu geben? Dürfen 5,9 Prozent der Wähler der riesigen Majorität die künftige Regierung vorgeben? Wie sehr müssen sie wegen der enormen demokratischen Hebelwirkung, die sie haben, von ihrer eigenen Minderheitsposition absehen, um demokratisch im Recht zu bleiben?

Vor allem aber: Die Entscheidung über die künftige Regierung kommt für die Wähler auf eine völlig undurchschaubare Weise zustande. Gefragt werden sie nicht mehr. Am Ende haben nicht sie über die Regierung entschieden, sondern Strategen in den Hinterzimmern der Parteizentralen. Analoge Überlegungen gelten für Thüringen. Oder jetzt auch für Brandenburg, wo die SPD entweder mit der Union oder aber mit den Linken koalieren kann - eine höchst folgenreiche Weichenstellung, ohne dass der Souverän, den die Folgen der Richtungsentscheidung treffen, mitzureden hätte.

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Die Bundestagswahl hat zwar, was die jetzt gewählte Koalition betrifft, gegenüber diesen Landtagen den demokratischen Vorteil, dass die FDP sich vor der Wahl auf die Union festgelegt und insofern die Wähler nicht im Unklaren gelassen hat. Weitgehend unbestimmt ist aber gleichwohl das Regierungsprogramm - von der ebenfalls beträchtlichen Hebelwirkung der 15-Prozent-FDP ganz abgesehen. Kann die Unberechenbarkeit des Prozesses, der nun das Regierungsprogramm herausmendeln wird, den Wählern egal sein, solange sie gewisse Hintergrundannahmen teilen, nicht zuletzt über das politische Naturell von Angela Merkel und von Guido Westerwelle?

In Deutschland gilt trotz der historischen Erfahrung der Weimarer Zeit das Verhältniswahlrecht als dasjenige Wahlsystem, das für größtmögliche demokratische Legitimität sorgt. Zweifellos bildet es die politische Landschaft des Wahlvolkes viel genauer und differenzierter ab als alle anderen Systeme, insbesondere als das Mehrheitswahlsystem.

Hang zum Konsens

Zu Recht aber wendet die Financial Times ein, dass bei einer Mehrheitswahl alle partikularen Ansprüche vor der Wahl in die großen konkurrierenden Parteien aufgenommen und sich dort für die künftige Regierungspolitik zurechtrütteln müssen und nicht - wie eben in Deutschland und im Widerspruch zum demokratischen Wahlakt - durch Koalitionsbildung nach der Wahl.

Die deutsche Art der politischen Blankovollmacht läuft auf eine Demokratie fast schon blinder Vertrauensseligkeit hinaus. Mag gut sein, dass der deutsche Hang zum Konsens und zur Vermeidung aufreibender Konflikte über die Jahrzehnte seine segensreichen Wirkungen entfaltet hat, trotz aller Bremseffekte und Reformstaus. Dieser Harmoniehang kompensiert die politische Ausdifferenzierung. Man verteilt seine politisch-partikularen Interessen auf immer mehr Parteien, überlässt es dann aber diesen, die Differenzen nachträglich auf diffuse und unkontrollierte Weise wieder einzuebnen - im Gottvertrauen darauf, dass sie es schon irgendwie richten werden.

Politisch selbstbewusst oder gar entschlossen verantwortungsbewusst ist diese Haltung nicht. Jeder hierzulande hat noch vor Augen, wie unerhört klar und detailliert im letzten Herbst zwischen den beiden Kandidaten der USA das jeweils geplante Regierungsprogramm herausgearbeitet und auch öffentlich abgefragt wurde.

Vom Krieg in Afghanistan bis zur Bewältigung der Finanzkrise, von der Einwanderungspolitik bis zur Haltung gegenüber den Bündnispartnern, alles wurde tausendmal präzisiert und offengelegt. Das war die Basis der Wahlentscheidung. Alle Minderheitenprogramme und auch alle Zukunftsvisionen (Internationale Ordnung, Umwelt etcetera) mussten sich in erklärter Weise im Regierungsprogramm einfinden.

Vertrauen in kameralistische Prozesse

Nicht dass es plausibel wäre, diesem Mehrheitswahlmodell vorbehaltslose demokratische Legitimität zuzuschreiben. Vor allem die exzessiven Polarisierungen im Wahlkampf und die fatale Abhängigkeit von populistischen Strömungen und charismatischen Figuren sind bekannt. Doch ein solcher inhaltsarmer Wahlkampf wie der, dessen politisch so schwer zu interpretierendes Ergebnis wir nun in Deutschland vor uns haben, wäre dort undenkbar, erst recht aber die dahinterstehende Einstellung.

Warum hegt dieses Land noch immer ein so großes Vertrauen in kameralistische Prozesse, die die Öffentlichkeit nicht durchschaut? Vertrauen in Hinterzimmer, in denen außerordentlich weitreichende Entscheidungen nach der Wahl gefällt werden, von denen viele vorher möglich wären und damit auch zur Wahl stünden? Die Delegierung der politischen Macht an die Koalitionsverhandlung gibt Mündigkeit preis, fördert politische Passivität und belohnt den Nichtwähler. Das Gottvertrauen der Wähler wird nur noch von ihm übertroffen.

© SZ vom 29.09.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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