Stuttgart (dpa/lsw) - Auf Klimakleber sieht sich die Polizei im Südwesten gut vorbereitet. Man habe sich sehr frühzeitig mit den neuen Aktionsformen der Gruppierung Letzte Generation auseinandergesetzt, teilte das Innenministerium auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur mit. Ihre Verklebungen könnten die Beamten der regionalen Polizeipräsidien in der überwiegenden Mehrzahl binnen 30 bis 90 Minuten auflösen. Als Lösungsmittel für den verwendeten Sekunden-Kleber werden zumeist herkömmliche Pflanzenöle verwendet.
Gespräche über einen Stopp der Aktionen wie in Hannover gibt es in den größten Städten in Baden-Württemberg einer dpa-Umfrage zufolge nicht. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer wiederum hatte sich vergangene Woche mit den Aktivisten getroffen und vor kurzem seine Antwort veröffentlicht, in der er Ziele der Gruppe unterstützt.
Die Polizei registrierte im vergangenen Jahr 31 Blockadeaktionen des Straßenverkehrs in Baden-Württemberg. 22 Mal hätten sich Aktivisten dabei am Fahrbahnbelag festgeklebt. In einem weiteren Fall seilte sich ein Mensch von einer Brücke über einer Fahrbahn ab.
In Bayern gibt es regionale Spezialeinheiten, die rund um die Uhr bereitstehen, um Aktivisten rasch von der Straße zu kriegen und Verkehrsbehinderungen zu vermeiden oder schnell aufzulösen. Auch Nordrhein-Westfalen rüstet gegen Klima-Aktivisten auf. Dort werden rund 10 000 Polizisten im Lösen festgeklebter Aktivisten ausgebildet.
Dem Ministerium in Stuttgart zufolge sind Polizeidienststellen schon im März 2022 mit Handlungsempfehlungen zu taktischen und rechtlichen Fragen des Umgangs mit den Klimaklebern versorgt worden. Das Thema fließe auch in Fortbildungsangebote ein.
Die Polizei ist durch die Proteste auch personell gefordert: Sie war in diesem Zusammenhang im vergangenen Jahr rund 1020 Stunden im Einsatz. Hiervon entfielen rund 948 Stunden auf Verkehrsblockaden.
Laut dem Landeschef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Ralf Kusterer, sind nicht die Auflösungen der Blockaden kräftezehrend, sondern die Folgen in Form von Staus und Umleitungen. Der Aufwand dafür entsprach laut einer Antwort des Ministeriums auf eine AfD-Anfrage bislang rund 60 650 Euro. Bei den illegalen Aktionen registrierte die Polizei 130 Tatverdächtige, darunter auch solche, die als Begleiter dabei waren.
Kusterer sprach sich für eine Präventivhaft nach bayerischem Vorbild aus, die Menschen droht, wenn sie Aktionen ankündigten. Man müsse reagieren können, „bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist“. Nach dem bayerischen Polizeiaufgabengesetz können Bürger auf Grundlage einer richterlichen Entscheidung bis zu einen Monat lang festgehalten werden, um zu verhindern, dass eine Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit oder eine Straftat begangen wird.
Die baden-württembergische Regelung sei nicht auf den Sachverhalt der Klima-Aktionen zugeschnitten, sondern auf Fälle wie Ingewahrsamnahme eines Betrunkenen oder eines Suizidgefährdeten, monierte Kusterer. Außerdem sei sie nur auf zwei Wochen begrenzt.
Das Ministerium betonte hingegen, auch in Baden-Württemberg könnte eine Ingewahrsamnahme bei angekündigten Aktionen im Einzelfall unmittelbar bevorstehende erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit abwehren. Dies passiere in Abwägung mit dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. „Gleichwohl erscheint im Zusammenhang mit den Klima-Protesten ein Gewahrsam in der überwiegenden Anzahl der Fälle nicht zielführend“, hieß es. Weil Ort und Zeit der Aktionen zuvor meist unbekannt sind, könnten die Taten nicht dauerhaft verhindert werden.
Die Gruppe selbst hat bis zum 24. Januar, dem Jahrestag der ersten Aktion in Berlin, 1250 Straßenblockaden in ganz Deutschland gezählt, rund 800 Menschen hätten sich beteiligt. Mehr als 1200 Mal seien Aktivistinnen und Aktivisten deswegen in Polizeigewahrsam gekommen.
Die Letzte Generation bietet inzwischen einen Stopp ihrer Proteste in ganz Deutschland an, wenn die Bundesregierung auf ihre Forderungen eingeht. Dabei geht es um die Wiedereinführung des 9-Euro-Tickets, ein Tempolimit von 100 Kilometern pro Stunde auf Autobahnen und die Einberufung eines sogenannten Gesellschaftsrats zu der Frage, wie Deutschland bis 2030 kein klimaschädliches CO2 mehr ausstößen könnte.
In Hannover hatte Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) den Aktivisten nach einem Treffen versichert, deren Forderung zum Gesellschaftsrat mit einem Brief an die demokratischen Bundestagsfraktionen zu unterstützen. Die Klimaschutzgruppe sagte daraufhin zu, Klebeproteste in der niedersächsischen Landeshauptstadt zu stoppen.
Auch in Baden-Württemberg habe man sich an Städte, Bürgermeisterinnen und Bürgermeister gewandt, teilte eine Sprecherin der Gruppierung am Montag mit. Einige Städte seien nicht auf die Gesprächsangebote eingegangen, sagte sie und nannte unter anderem Ulm und Heidelberg als Beispiele. Die dortigen Pressestellen dementierten allerdings auf Nachfrage, dass es ein konkretes Gesprächsangebot gegeben habe.
„Über allgemein bekannte und öffentlich formulierte Aufrufe und Appelle hinaus hat das Rathaus direkt kein solches Angebot erhalten“, teilte eine Sprecherin in Ulm mit. Auch in den anderen Stadtkreisen Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg, Heilbronn und Pforzheim war der dpa-Umfrage zufolge kein direktes Gesprächsangebot bekannt.
Tübingens Rathauschef Palmer wiederum schrieb in seiner auf Facebook veröffentlichten Antwort, er unterstütze den Vorschlag einer Bürgerbeteiligung auf Bundesebene. Dabei sollten die Prinzipien des Parlamentarismus respektiert werden: Parlament und Regierung müssten aus eigenem Entschluss einen solchen Rat einsetzen und sollten sich selbst verpflichten, „die Ergebnisse ernsthaft zu betrachten und in politische Beschlüsse zu übersetzen“. In dem Zusammenhang verwies Palmer auf das im Koalitionsvertrag Bürgerrat genannte Instrument.
Laut Letzter Generation sind weitere Städte mit den Aktivisten in Kontakt. „Diese Gespräche sind jedoch nicht öffentlich“, hieß es.
© dpa-infocom, dpa:230227-99-761683/4