Türkei:Fall Kavala: Warum die Erdoğan-Regierung so gereizt reagiert

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Der echte Osman Kavala: ein Philanthrop. Das Bild zeigt ihn bei einer Veranstaltung in Istanbul im Jahr 2021. (Foto: HANDOUT/AFP)

Zahlreiche Staaten fordern ein faires Verfahren für den seit Jahren inhaftierten Kulturmäzen Osman Kavala. Die türkische Regierung ist aufgebracht.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Die türkische Regierung ist aufgebracht: Weil sich zehn Botschafter, darunter auch der deutsche Vertreter, gemeinsam für den inhaftierten Kulturmäzen Osman Kavala starkgemacht haben, wurden sie nun ins Außenministerium einbestellt. In der Welt der Diplomatie gilt dies als Ausdruck scharfer Kritik vonseiten des Gastgeberlandes. Die Diplomaten hatten in ihrer Erklärung gefordert, dass der seit vier Jahren ohne Schuldurteil inhaftierte Kavala ein faires Verfahren bekommt. Der türkische Innenminister Süleyman Soylu twitterte daraufhin erbost, die Türkei sei ein Rechtsstaat: "Botschafter, die der Justiz in einem laufenden Verfahren eine Empfehlung und einen Vorschlag machen, sind inakzeptabel."

Das türkische Außenministerium lud neben dem deutschen Botschafter die Vertreter der USA, Frankreichs, Italiens und sechs weiterer Staaten vor. Das Vorgehen der Diplomaten mag auf den ersten Blick ungewöhnlich sein. Der Fall Kavala steht aber seit Langem im Zentrum der Debatte um den Abbau von Demokratie und Rechtsstaat in der Türkei.

"Die anhaltenden Verzögerungen in Kavalas Prozess, einschließlich der Zusammenlegung verschiedener Fälle und der Schaffung neuer Anschuldigungen nach einem Freispruch, werfen einen Schatten auf die Achtung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Transparenz im türkischen Justizsystem", hatten die Botschafter laut Reuters erklärt und eine rechtsstaatlich einwandfreie und rasche Lösung gefordert. Mit Verweis auf Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) forderten sie die sofortige Freilassung Kavalas.

Der Fall Kavala steht in den Augen der Kritiker von Präsident Recep Tayyip Erdoğan beispielhaft für die Verfolgung von Oppositionellen durch eine immer stärker politisierte und gelenkte Justiz. Der 63-jährige Geschäftsmann sitzt seit vier Jahren ohne Urteil in Haft. Er ist Verleger und Kulturmäzen und hat zivilgesellschaftliche Projekte gefördert. Mit seiner Organisation Anadolu Kültür hatte er sich für eine innertürkische Aussöhnung mit den Kurden und den Armeniern starkgemacht.

Kavala ist Gegner der fast allmächtigen Präsidialherrschaft

Außerdem hat Kavala einen türkischen Ableger der Open Society Foundations mitgegründet. Der US-Philanthrop George Soros fördert mit der Stiftung demokratische Bewegungen. Kavala zählt zudem zu den Gegnern der fast allmächtigen Präsidialherrschaft, die Erdoğan eingeführt hatte. Kavala hatte jüngst erklärt, er bleibe in Haft, damit Ankara weiter behaupten könne, dass die landesweiten Gezi-Proteste von 2013 keine zivilgesellschaftliche Auflehnung waren, sondern eine vom Ausland gesteuerte Verschwörung.

Das juristische Vorgehen gegen Kavala wirkt bizarr. Von der ursprünglichen Anklage, er habe 2013 die wochenlangen Gezi-Proteste organisiert und finanziert, wurde er freigesprochen. Statt ihn aber freizulassen, erhob die Justiz am selben Tag erneut Vorwürfe. Kavala muss sich nun auch wegen der angeblichen Beteiligung am Putschversuch von 2016 und wegen angeblicher Spionage verteidigen.

Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hatte 2019 Kavalas Freilassung gefordert. Die Türkei ignoriert dieses Urteil bislang, obwohl sie als Mitglied des Europarats zur Umsetzung verpflichtet ist. Der neue Prozess gegen Kavala und mehr als vier Dutzend weitere Angeklagte wurde nach der Eröffnung auf Ende November vertagt und liegt damit bedenklich nahe an dem bindenden Termin, den der Europarat der Türkei gesetzt hat.

Ankara gerät durch den europäischen Menschenrechtsgerichtshof auch an anderer Stelle unter Druck: Das Gericht verurteilte das Europarat-Mitglied am Dienstag wegen Verletzung der Meinungsfreiheit. Es geht um satirische Facebook-Postings über Erdoğan. Der Beschuldigte war deswegen zu einer einjährigen Bewährungsstrafe verurteilt worden. Im Urteil wird Ankara aufgefordert, die Gesetze zu ändern, auf deren Grundlage der Mann verurteilt worden war. In der Türkei werden regimekritische Äußerungen regelmäßig unter dem Vorwurf der Präsidentenbeleidigung zur Anklage gebracht.

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