Kassel:10 000 Demokraten gegen 120 Neonazis

Demo gegen rechte Kundgebung

Die Gegendemonstranten waren eindeutig in der Überzahl - tatsächlich waren es so viele, dass keine Busse und Trambahnen in der Innenstadt fahren konnten.

(Foto: dpa)
  • Die rechtsextreme Splitterpartei "Die Rechte" wollte am Samstag in Kassel an dem ehemaligen Dienstsitz des ermordeten Regierungspräsidenten Walter Lübcke vorbeiziehen.
  • Die Gegendemonstration fiel Schätzungen zufolge jedoch fast 100 mal so groß aus wie der Zug der Neonazis.
  • Die Proteste verliefen insgesamt friedlich.

Von Susanne Höll, Kassel

Wer im nordhessischen Kassel die Hoheit auf den Straßen besitzt, ist eindeutig geklärt. In der nordhessischen Stadt standen sich an diesem heißen Samstag schätzungsweise 10 000 Demokraten und 120 Neonazis gegenüber. Jedenfalls an einigen Kreuzungen in der Unterneustadt, ein paar Steinwürfe entfernt von der City. Dorthin hatte die Stadtverwaltung die rechtsextreme Splitterpartei "Die Rechte" verbannt, die in einem Akt der Provokation knapp zwei Monate nach dem Mord am nordhessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke, begangen mutmaßlich von einem Neonazi, ursprünglich an dessen einstigen Dienstsitz vorbeiziehen wollte. Kommt gar nicht in Frage, befanden die Leute in Kassel.

Die Stadt war, man kann es nicht anders sagen, in einem Ausnahmezustand. Zentrale Straßen waren abgesperrt, mit dem Auto kam man nicht ins Zentrum. Busse und Bahnen waren in den Depots geblieben, aberhunderte Polizisten und Polizistinnen standen Spalier an den Absperrungen, die die Rechten von ihren Gegnern trennen sollten. Zum Schutz des von Gerichten genehmigten Neonazi-Marsches und der vielen Gegenveranstaltungen bot die Staatsmacht alles auf: In der Luft kreiste stundenlang ein Polizeihubschrauber, Polizisten waren zu Pferd unterwegs, andere hatten Hunde dabei, Wasserwerfer standen parat.

Rechte Kundgebung

Teilnehmer des Demonstrationszuges der Partei "Die Rechte".

(Foto: dpa)

Friedlich sollte es bleiben, das hatte sich die Stadt gewünscht. Und die allermeisten Anti-Rechts-Aktivisten auch. Sie haben ihr Ziel erreicht. Keine größeren Zwischenfälle, meldete sie Polizei am Ende des Straßen-Spektakels, keine Verletzten, ein paar Flaschen seien geflogen, Messer sichergestellt worden. Das sind, gemessen an Ausschreitungen bei anderen Demonstrationen, Petitessen. Ein Neonazi wird sich verantworten müssen wegen seiner Hautbemalung. Er hatte sich ein verfassungswidriges Symbol tätowieren lassen. In Kassel schaute die Polizei am Samstag bei den Neonazis ganz genau hin.

Der Umgang mit den Protestierenden, einer sehr bunten Mischung aus Jung und Alt, Gewerkschaftern, Politikern, Umwelt- und Europaaktivisten, Ausländergruppen, ehemaligen Mitarbeitern des toten Präsidenten Lübcke und vielen nichtorganisierten Kasselern und Kasselänern war, abgesehen von ein paar harmlosen Rangeleien an Absperrungen, sehr entspannt.

Kassel ist keine Brutstätte brauner Gewalt

Die Stadtgesellschaft kämpfte an diesem Tag nicht nur gegen Rechtsextreme. Sie kämpfte auch um Kassels Ruf. Hier war Halit Yozgat, Betreiber eines Internet-Cafés, 2006 von der Mörderbande des NSU erschossen worden, in Kassel lebte der des Mordes an Lübcke verdächtige Stephan E. In und um die Stadt herum gibt es militante Neonazi-Gruppen. Aber Kassel ist keine Brutstätte brauner Gewalt - das war die Botschaft der Gegendemonstranten.

Was die Rechten in ihren kurzen, über Lautsprecher auf einem Autodach übertragenen Kundgebungen erklärten, konnten und wollten die Gegendemonstranten nicht. Sie konnten nicht durch die Absperrungen gelangen, der Polizeihubschrauber machte Lärm, sie selbst bliesen in Trillerpfeifen. Und sie brachten Geduld auf. Weil etliche der Rechten im Verkehrschaos steckengeblieben waren, fanden sie erst mit stundenlanger Verspätung zum vereinbarten Treffen an einem Gebäude in der Unterneustadt am Ufer der Fulda. Dass der propere alte Backsteinbau früher einmal ein Gefängnis war und mithin ein durchaus symbolträchtiger Ort ist, wussten die allermeisten von ihnen sicher nicht. Sie kamen aus dem Ruhrgebiet, Rheinhessen und dem Saarland. In Kassel ist die Splitterpartei angeblich nicht aktiv.

Die Gegendemonstranten feierten ihren anstrengenden Tag am Abend bei einem Kulturfest am alten Hauptbahnhof, eben dort, wo sie am Morgen ihre Protestzüge begonnen hatten. Dem weltoffenen, liberalen Lübcke hätte das Treiben in der Stadt sicherlich gefallen. Sein Tod hat, so sagen viele, in Kassel die Stadtgemeinschaft zusammengeschweißt, im Moment jedenfalls. "Wer hätte geglaubt, dass Linke und die CDU in Kassel einmal gemeinsam demonstrieren", fragt der in Nordhessen ansässige Linkspartei-Abgeordnete Torsten Felstehausen am Rand der Demonstrationen. Bis zum Samstag hätte man sich das tatsächlich nur schwer vorstellen können.

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