Italien:Auch die Trauer spaltet das Land

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Der letzte Weg: Nach der Trauermesse im Mailänder Dom fährt der Wagen mit Silvio Berlusconis Sarg ab. (Foto: Claudio Furlan/La Presse/AP)

Dem früheren Regierungschef Silvio Berlusconi wird ein großes Staatsbegräbnis in Mailand zuteil. Aber dass auch noch eine Woche staatliche Trauer herrschen und die Politik ruhen soll, geht doch manchem zu weit.

Von Marc Beise, Mailand

Bei der Buchhandlung Mondadori am Mailänder Dom haben sie ein ganzes Fenster freigeräumt und nur ein Foto von Silvio Berlusconi eingestellt, das sieht sehr würdig aus. Ist vielleicht nicht überraschend, denn der größte Buchverlag Italiens gehört mehrheitlich zum Berlusconi-Konzern, die Tochter des am Montag verstorbenen Patriarchen, Marina Berlusconi, ist Vorstandsvorsitzende. Aber es sind nicht nur die im Berlusconi-Reich ergriffen in diesen Tagen, sondern maßgebliche Teile der Gesellschaft, das ist mit Händen zu greifen.

Die einen sind wirklich unendlich traurig wie sicher viele der 1600 Abschiedsgäste beim Trauergottesdienst im Dom, und auch unter den weiteren Tausenden auf dem Platz, wohin die Messe auf Großbildschirmen übertragen wird, fließen Tränen. Andere sind jedenfalls ergriffen, es ist eines Mannes zu gedenken, der 40 Jahre lang aus dem öffentlichen Leben Italiens nicht wegzudenken war.

Eine Flut von Nachrufen hat sich über die Italiener ergossen

Ein Land im Ausnahmezustand, so haben sich das Berlusconis Anhänger vorgestellt, und ein Stück weit bekommen sie das auch hin. Im ganzen Land sind die Flaggen an öffentlichen Gebäuden auf halbmast - auf Geheiß des Amtes des Ministerpräsidenten in Rom. Der Ministerpräsident heißt Giorgia Meloni, sie möchte in der männlichen Form angesprochen werden. Silvio Berlusconi wäre es wohl nie in den Sinn gekommen, eine Frau in der männlichen Form anzusprechen, diesen Staatstrauertag aber hätte er gewiss gutgeheißen.

Schon Stunden vor der Trauermesse für den früheren Premier Berlusconi versammelten sich Menschen vor dem Dom in Mailand. Viele brachten Transparente mit oder Fahnen seines früheren Clubs AC Milan. (Foto: CLAUDIA GRECO/REUTERS)

Im ganzen Land? Eine kleine Einrichtung in Siena zum Beispiel leistet Widerstand. Dem Rektor der Unistradi, der Hochschule für Ausländer, Tomaso Montanari, ist es wichtig, das zu begründen. Nichts gegen die "Trauer, die man angesichts jedes Todes empfindet", sagt Montanari. Aber bitte keine "heuchlerische Heiligsprechung": Es stimme ja, dass Berlusconi in die Geschichte eingegangen sei, aber er habe die Welt und Italien - jetzt kommt es - "in einem viel schlechteren Zustand hinterlassen, als er sie vorgefunden hat." Von der Mitgliedschaft in der Geheimloge P2 über die Beziehungen zur Mafia, von der Verachtung der Gerechtigkeit bis zur Herabwürdigung von Frauen in seinen Fernsehsendungen), von der Beteiligung von Faschisten an der Regierung bis zur Lüge als systematische Methode, vom Eigennutz als einzigem Maßstab zur Bauspekulation und der Zerstörung der Natur - darin und in vielem mehr sei Berlusconi das genaue Gegenteil eines Staatsmannes gewesen: "Sich daran zu erinnern, ist heute eine staatsbürgerliche Pflicht."

Der Rektor übernimmt, auch das ist ihm wichtig, persönlich die Verantwortung für den Verstoß gegen das Flaggengebot: "Letztlich gehorcht jeder seinem Gewissen, und eine Universität, die sich so vor der Geschichte verneigt, ist keine Universität."

Il Presidente del Consiglio Meloni also hat mit ihren Koalitionspartnern, der Lega von Vizepremier Matteo Salvini und der jetzt kopflosen Forza Italia, das ganz große Spektakel organisiert, bei dem der Flaggenerlass noch die mildeste Ausgestaltung ist. Sieben Tage soll der politische Betrieb praktisch ruhen - das gab es so noch nie.

Langzeitpremier, Milliardär, Konzernschmied, Glamourfigur, vielfach Angeklagter: Der Mann war eine Ausnahmeerscheinung, keine Frage, gibt Emma Bonino zu, frühere Ministerin und EU-Außenkommissarin und seit Jahren mit ihrer kleinen Partei im politischen Diskurs, aber dieses Ausmaß der Trauer gehe zu weit: "Ein Exzess", sagt Bonino.

Der Bruder, die älteste Tochter und die Partnerin am Wagen mit Silvio Berlusconis Sarg: Paolo und Marina Berlusconi sowie Marta Fascina (v.li.) (Foto: Luca Bruno/AP)

Und die Sozialdemokratin Rosy Bindi, mehrmalige Ministerin, Abgeordnete, die sich legendäre Wortgefechte mit Berlusconi lieferte, Vizepräsidentin des Parlaments und überzeugte Katholikin, sagt: "Staatsbegräbnisse sind vorgesehen, und es ist richtig, dass es sie gibt. Aber nationale Trauer um eine Person, die gespaltet hat wie Berlusconi, ist meiner Meinung nach keine angemessene Wahl." Wofür sie aus Melonis Partei Fratelli d'Italia sofort den Vorwurf kassiert, das sei erstens unchristlich und zweitens Ausdruck einer "katholisch-kommunistischen Symbiose." Staatstrauer in einem gespaltenen Land.

Eine Flut von Nachrufen hat sich in den vergangenen Tagen ergossen über die Italiener, irgendwo hieß es, jede und jeder im Land spüre den Verlust, weil eben jeder und jeder im Land ein kleiner Berlusconi sei. Soll heißen: ein kleiner Bescheißer auf Kosten des Staates. Liebenswert, aber korrupt. Charmant, aber untreu. Abgesehen davon, dass man hier auch viele Leute treffen kann, die ausdrücklich keinen kleinen Berlusconi in sich spüren, ihrem Handwerker eine Rechnung abverlangen und reichlich Steuern zahlen, führt der Vergleich auch sonst nicht weiter, weil es hier jetzt um den großen Berlusconi geht. Um punkt 15 Uhr fährt der Leichenwagen vor dem Dom vor, aus Arcore kommend, dem Örtchen im Norden von Mailand, das für immer mit dem Namen Berlusconi verbunden sein wird.

Das Mausoleum ist längst fertig. Nur fehlen die Genehmigungen

Dort hatte der Bauunternehmer Berlusconi vor langer Zeit eine alte Villa gekauft, eines von vielen Häusern, in denen er lebte und liebte, aber San Martino wurde zum Familienanwesen, zur letzten Station. In den Park setzte ihm der Bildhauer Pietro Cascella ein Mausoleum, die Decke als Himmelsgewölbe stilisiert. Dort wird seine Urne eines Tages wohl stehen, noch fehlen die behördlichen Genehmigungen. "Mach mir nur kein Leichenschauhaus mit Sensen und Totenköpfen", erinnert sich der Künstler an den Auftrag. Weißer Marmor, Travertintreppe, Vorraum, und im Innersten der für Berlusconi angefertigte weiße Sarkophag, drumherum Nischen für Familie und Freunde.

Das war das Prinzip: Mit einem eingeschworenen Kreis, Familie und Höflinge, Geschäfte und Politik betreiben. Die fünf erwachsenen Kinder haben längst ihre Rollen im Imperium, womöglich geht eines jetzt auch in die Politik . Die Partei Forza Italia, Berlusconis Geschöpf durch und durch, ist in Schockstarre, es gibt ein paar Aushängeschilder wie Außenminister Antonio Tajani, der tapfer verkündete, er und seine Parteikollegen hätten "die Pflicht, weiterzumachen". Aber ob das reicht?

Die selbsternannten Erben machen sich ja schon breit, sie kamen am Dienstag in der Abenddämmerung nach Arcore, zur Totenwache, wie es hieß, aber sicher sprachen sie auch über die Zukunft; Meloni, Salvini, es war ein ständiges Kommen und Gehen. Und die Staatstrauer, die Totenmesse im prächtigen Mailänder Dom sind ein Bekenntnis: Wir sind hier, und wir sind stark.

Kein Heiliger, aber ein treues Mitglied der Kirche

Alle sind sie gekommen, die ganze politische Klasse, Staatspräsident Sergio Mattarella natürlich, frühere Regierungschefs, zähneknirschend auch die Führerinnen und Führer der Opposition, die hier nichts zu gewinnen haben.

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Den Gottesdienst leitet der Mailänder Erzbischof Mario Delphi, er holt in seiner Predigt den übergroßen Berlusconi vom Sockel und macht den gerissenen Geschäftsmann, den streitbaren Politiker und den geltungssüchtigen Unterhaltungsstar wieder zu einem ganz normalen Menschen, der einfach ein Verlangen nach Leben und Liebe hatte und glücklich sein wollte. "Ecco l'uomo", einfach ein Mensch - der sich jetzt vor Gott verantworten muss.

Die Kirche hat es mit dem Verstorbenen auch zu Lebzeiten gut gemeint. Seit 2006 trug er das "Große Kreuz" des Heiligen Stuhls. Das passt insofern, als Berlusconi einmal sagte, er sei "der Jesus Christus der Politik. Ich bin ein geduldiges Opfer, ich ertrage alles, ich opfere mich für alle." War natürlich ein Witz; er hat auch gesagt, er sei "kein Heiliger", das passte besser, es bezog sich auf seine Frauengeschichten.

Mindestens will er ein treues Mitglied der Katholischen Kirche gewesen sein, das sagt auch die Kirche. Vor allem aber war es ein knallharter Deal, den Berlusconi und die Kirche zu Beginn der politischen Karriere des Milliardärs schlossen. Er machte die konservative Familienpolitik, die den alten Männern im Vatikan gefiel, und sie sahen großzügig über seine Eskapaden hinweg. Auch dies eine lange Beziehung, die an diesem Mittwoch im Mailänder Dom ihr Ende findet. Als alles vorbei ist, wird der Sarg wieder zurück nach Arcore gefahren, später soll Silvio Berlusconi eingeäschert werden, und dann ist noch die Sache mit dem Mausoleum zu klären.

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SZ PlusNachruf auf Silvio Berlusconi
:Masseur der Massen

In all den Jahren in der Politik hat sich Silvio Berlusconi vor allem um eines gekümmert: um sich selbst. Er war Wegbereiter vieler Populisten, Demagogen und Kopfverdreher. Zum Tod eines Mannes, der die Welt verändert hat, wenn auch nicht zum Guten.

Von Oliver Meiler

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