Krieg in Nahost:Empörung nach tödlichen Schüssen bei Hilfskonvoi

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Das Bild stammt aus einem Video, das die israelische Armee veröffentlicht hat. Es soll die Menschenmenge zeigen, die sich um die Lastwagen mit Hilfslieferungen drängt. (Foto: Aline Manoukian/AFP)

Bei der Verteilung von Hilfslieferungen in Gaza-Stadt sollen mehr als 100 Menschen getötet worden sein. Die UN fordern Aufklärung, Frankreich spricht von "Beschuss von Zivilisten durch das israelische Militär". Die Armee verteidigt sich.

Von Sina-Maria Schweikle, Berlin

Es sind dramatische Szenen, die im Internet zu sehen sind. Eine Frau weint lautstark vor einem Wagen, der mit Verletzten und Toten beladen ist. Männer trauern neben leblosen Körpern. Die Bilder kommen aus der Stadt Gaza, im nördlichen Teil des schmalen Küstenstreifens. Der palästinensischen Gesundheitsbehörde zufolge sollen dort am Donnerstagmorgen mehr als 100 Menschen bei der Verteilung von Hilfsgütern getötet und über 750 verletzt worden sein. Die Behörde, die von der Hamas kontrolliert wird, beschuldigte die israelische Armee, eine Menschenmenge, die in Gaza-Stadt auf Hilfslieferungen wartete, angegriffen und auf sie geschossen zu haben.

Ein israelischer Insider sagte nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters, dass Soldaten auf "mehrere Personen" in der Menge geschossen hätten, die für sie eine Gefahr dargestellt hätten. Das dementieren die israelischen Streifkräfte (IDF) in israelischen Medien. Darin heißt es, dass die IDF nicht auf die Menschenmenge geschossen hätten, allerdings hätten Truppen das Feuer auf mehrere Bewohner eröffnet, die sich einem Kontrollpunkt der israelischen Streitkräfte näherten und die Soldaten in Gefahr gebracht hätten. Die IDF teilten unter anderem auf der Plattform X mit, dass die Anwohner die Lastwagen umzingelt hätten, um die gelieferten Hilfsgüter zu plündern. "Durch das Schieben, Trampeln und Überfahren durch die Lastwagen wurden Dutzende Bewohner des Gazastreifens getötet und verletzt".

Diese Aussage wiederholte der israelische Armeesprecher Daniel Hagari später in einem Video-Statement. In anderen Punkten aber wichen seine Aussagen von den vorher getätigten der IDF ab. Hagari erklärte, die IDF habe einen Konvoi von 38 Lastwagen, die mit Hilfsgütern aus Ägypten beladen waren, "koordiniert". Der erste Lastwagen habe sich um 4.40 Uhr auf den Weg in den Gazastreifen gemacht. Panzer seien vor Ort gewesen, "um den humanitären Korridor für den Hilfskonvoi zu sichern". Um 4.45 Uhr habe ein Mob die Lastwagen angegriffen und sie zum Stillstand gebracht. Hagari sagte, dass die Panzer "vorsichtig" versucht hätten, die Menge mit "ein paar Warnschüssen" zu zerstreuen.

"Als aus den Hunderten Tausende wurden und die Situation außer Kontrolle geriet, beschlossen die Panzerkommandanten, sich zurückzuziehen, um zu verhindern, dass Tausende Menschen aus dem Gazastreifen zu Schaden kommen", sagte Hagari. Die Panzer hätten nicht auf den Konvoi geschossen. In einer separaten Erklärung in hebräischer Sprache sagte er aber laut BBC, die Panzer hätten das Feuer auf Personen eröffnet, die eine Bedrohung darzustellen schienen. Keine der Angaben lässt sich unabhängig prüfen.

Die Vereinten Nationen fordern eine Untersuchung, wie ein Sprecher von UN-Generalsekretär António Guterres in New York erklärte. "Es wird eine Zeit der Verantwortung geben", fügte Stephane Dujarric hinzu. Mitarbeiter der Vereinten Nationen seien bei dem Vorfall nicht anwesend gewesen, man kenne nicht alle Fakten und sei sich bewusst, dass es unterschiedliche Darstellungen gebe. Der Weltsicherheitsrat, das mächtigste UN-Gremium, wollte noch am Donnerstag hinter geschlossenen Türen zu Beratungen zusammenkommen. Guterres bekräftigte am Freitag nachdrücklich seine Forderung nach einer Waffenruhe. Er verurteile den Zwischenfall, bei dem zahlreiche Menschen getötet oder verletzt worden seien, während sie lebensrettende Hilfe gesucht hätten, schrieb er bei X.

Inzwischen hat der rechtsextreme Minister für Nationale Sicherheit und radikale Siedler, Itamar Ben-Gvir, angekündigt, dass er als Reaktion auf die Vorfälle in Gaza die Hilfslieferung einstellen will. Der Vorfall habe "bewiesen, dass der Transfer humanitärer Hilfe nach Gaza nicht nur Wahnsinn ist, während unsere Geiseln im Gazastreifen festgehalten werden", sondern auch die Soldaten gefährde.

Weiter berichtet die Nachrichtenagentur Reuters, dass das medizinische Personal nicht in der Lage gewesen sei, das Ausmaß und die Schwere der Verletzungen von Dutzenden Verwundeten zu bewältigen, die im al-Shifa-Krankenhaus eintrafen. Der Chef der Kamal-Adwan-Klinik in Gaza-Stadt erklärt Reuters am Telefon, dass allein in seinem Krankenhaus zehn Leichen und Dutzende Verletzte eingeliefert worden seien. Die Hamas warnte in einer Erklärung, dass der Vorfall zum Scheitern der Gespräche über eine Einigung über einen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln führen könnte. Auch US-Präsident Joe Biden sagte in Washington auf die Frage eines Journalisten, der Vorfall werde die Verhandlungen erschweren. Der genaue Hergang werde geprüft. Biden verwies auf die zwei unterschiedlichen Darstellungen: "Ich habe noch keine Antwort."

Deutlicher wurde Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Er zeigte sich auf X empört über die Bilder, "die uns aus Gaza erreichen, wo Zivilisten von israelischen Soldaten ins Visier genommen wurden". In einer zuvor veröffentlichten Mitteilung des französischen Außenministeriums hieß es: "Der Beschuss von Zivilisten durch das israelische Militär bei dem Versuch, an Lebensmittel zu gelangen, ist nicht zu rechtfertigen."

Vertreter der Vereinten Nationen warnen vor dem Hungertod Tausender Zivilisten

Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist nach Angaben von internationalen Hilfsorganisationen katastrophal. Zwar rollen fast täglich Lastwagen mit Hilfsgütern über die Grenze - doch es sind viel zu wenige, sagen Hilfsorganisationen. Nach UN-Angaben haben sich die Hilfslieferungen im Februar im Vergleich zum Vormonat sogar halbiert. Am Grenzübergang Kerem Schalom kommt es regelmäßig zu Demonstrationen von israelischen Staatsbürgern, die die Hilfslieferungen komplett stoppen möchten. Sie argumentieren, dass man damit die Hamas zu einem Geisel-Deal zwingen könnte. Hinzu kommt, dass kriminelle Banden Hilfslieferungen plündern. Da die Hamas immer wieder einen Teil der Hilfsgüter abzweigt, kam es im Gazastreifen zu vereinzelten Protesten.

Vertreter der Vereinten Nationen warnen vor dem Hungertod Tausender Zivilisten. Die Weltgesundheitsorganisation berichtet laut Presseagenturen von zwei Säuglingen, die im nördlichen Gazastreifen an Dehydrierung und Unterernährung gestorben seien. Als Quelle nannte die WHO das Gesundheitsministerium in Gaza, das der Hamas-Verwaltung untersteht. Viele Kinder seien aufgrund des Mangels an Nahrungsmitteln vom Tod bedroht. Immer wieder wurde in den vergangenen Tagen von gewaltsamen Auseinandersetzungen um Hilfsgüter berichtet.

Krieg in Nahost
:Israels Militär: Haben Menschen in Gaza nicht gezielt angegriffen

Bei dem Gedränge während der Ankunft der Lastwagen hätten die Soldaten nur Warnschüsse abgegeben, betont ein Sprecher. Der palästinensische UN-Botschafter wirft Israel unterdessen die gezielte Tötung von Palästinensern vor. Die USA fordern eine schnelle Aufklärung des Vorfalls.

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Um den Menschen im Gazastreifen zu helfen, starteten in den vergangenen Tagen von Jordanien aus Hilfsflugzeuge, die Lebensmittelpakete über dem Gazastreifen abwerfen. Einige davon sind unweit der Küste im Meer gelandet. Auf Bildern und Videos ist zu sehen, wie Menschen verzweifelt ins Wasser sprangen, um Rationen an Land zu ziehen.

Über 30 000 Menschen sollen im Gazastreifen getötet worden sein

Über fünf Monate dauert der Krieg im Gazastreifen nun an. Am 7. Oktober griffen Hamas-Terroristen Israel an. Dabei ermordeten sie mehr als 1200 Menschen im Süden des Landes und verschleppten über 250 weitere als Geiseln in den Gazastreifen. Durch die Gegenangriffe der israelischen Streitkräfte sollen seitdem nach Angaben der palästinensischen Gesundheitsbehörde mehr als 30 000 Menschen getötet worden sein. Nach israelischen Angaben sind mehr als ein Drittel davon Hamas-Kämpfer.

Vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf hat der Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, erneut massive Verstöße gegen das Völkerrecht im Gaza-Krieg angeprangert. Etwa jeder zwanzigste Mensch - Kinder, Frauen und Männer - in der palästinensischen Enklave sei tot oder verletzt. "Das ist ein Gemetzel", sagte Türk am Donnerstag. Der UN-Vertreter forderte einen sofortigen Waffenstillstand und die Freilassung der Hamas-Geiseln. Alle Beteiligten müssten zur Rechenschaft gezogen werden.

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