Interview mit Litauens Premierministerin:"Etwas Vergleichbares hat Deutschland nie zuvor getan"

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Hände schütteln in Berlin: Die litauische Premierministerin Ingrida Šimonytė und Bundeskanzler Olaf Scholz am Donnerstag. (Foto: Tobias Schwarz/AFP)

4800 Soldaten wird die Bundeswehr in Litauen stationieren - das zeige, dass die deutsche Regierung die Bedrohung durch Russland ernst nimmt, sagt Litauens Premierministerin. Doch von den roten Linien des Bundeskanzlers bei Waffenlieferungen an die Ukraine hält Ingrida Šimonytė nichts.

Von Daniel Brössler und Paul-Anton Krüger

Die litauische Premierministerin Ingrida Šimonytė ist zu politischen Gesprächen in Berlin, wo sie am Donnerstagnachmittag auch von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) empfangen wurde. Sie appelliert leidenschaftlich dazu, die Ukraine stärker zu unterstützen. Wenn das Land den Krieg verliere, werde die Bedrohung für Litauen und die Nato um ein Vielfaches größer.

SZ: Frau Premierministerin, was ist derzeit Ihre größte Sorge?

Ingrida Šimonytė: Das liegt auf der Hand, die Instabilität in Europa und die getrübten Aussichten auf einen gerechten und dauerhaften Frieden in der Ukraine.

Läuft die Ukraine Gefahr, den Krieg zu verlieren?

Ich werde nicht die Kassandra geben, die etwas voraussagt. Sehr viel hängt von uns ab. Wenn wir die Ukraine nicht unterstützen, wird die Lage sehr schwierig werden. Die Ukraine braucht Munition, Artillerie, alles, um die Front halten zu können. Sonst wird sich die Lage sehr schnell verschlechtern, weil Russland inzwischen alles dem Krieg unterordnet. Präsident Putin setzt jetzt auf eine Kriegswirtschaft und strategische Geduld - auf politische Veränderungen im Westen, die es ihm ermöglichen, seine Ziele zu erreichen.

Muss sich der Westen eingestehen, dass er nicht genug tut, um die Ukraine zu unterstützen?

Das haben wir nie getan. Am Anfang gab es die Debatte, wie lange die Ukraine dem Angriff standhält. Eine Woche? Zwei Wochen? Ich neige dazu, den Geheimdiensterkenntnissen unserer Partner zu trauen, aber da war ich sehr skeptisch, weil es offenkundig an Verständnis dafür mangelte, wie die ukrainische Gesellschaft reagiert. Deswegen haben wir uns lange aufgehalten mit Debatten, in denen es vor allem darum ging, was wir nicht tun. Nach ein paar Monaten wurden dann Dinge geliefert, die vorher tabu waren. Das ist bedauerlich, weil wir dadurch der Entwicklung des Kriegs ständig hinterherlaufen und es Menschen das Leben gekostet hat.

Der Bundeskanzler hat gerade begründet, warum er der Ukraine keine Taurus -Marschflugkörper liefern wird. Was sagen Sie ihm?

Ich würde es Experten überlassen zu beurteilen, wie entscheidend das auf dem Schlachtfeld wäre. Was ich aber sagen würde: Die Art des Kriegs in der Ukraine hat sich verändert. Es geht nicht mehr um schwere Fahrzeuge, die sich an der Front gegenüberstehen. Was wir sehen, ist, dass ein Panzer für 20 Millionen Euro von einer Drohne außer Gefecht gesetzt wird, die vielleicht 7000 Euro kostet. Deswegen reden wir heute von anderen Dingen. Wichtig ist, dass wir uns selbst keine roten Linien auferlegen, denn Putin kennt keine roten Linien. Er ist es, der jede zweite Woche über Atomwaffen spricht.

"Putin hat klar gesagt, dass Russland keine Grenze kennt": Die Wirtschaftswissenschaftlerin und konservative Politikerin Ingrida Šimonytė, 49, ist davon überzeugt, dass Russlands Präsident Wladimir Putin "tut, was immer er für nötig erachtet, um sich an der Macht zu halten". (Foto: Sven Hoppe/DPA)

Eine dieser roten Linien ist, dass die Ukraine vom Westen gelieferte Waffen nicht auf russischem Territorium einsetzt. Ist das ein Fehler?

Die Ukraine wird von Russland angegriffen. Was ist das für eine Logik, dass die Ukraine diesen Krieg nur auf ihrem Territorium führen soll, während Russland ihre Städte zerstört? Wir sagen damit letztlich, die Ukraine hat zwar irgendwie ein Recht, sich zu verteidigen, aber nicht mit allen Mitteln. Dabei ist die UN-Charta da völlig eindeutig. Und ich finde es vor allem mit Blick auf die Krim verstörend, denn sie ist völlig unstrittig Teil der Ukraine und hat große strategische Bedeutung für sie.

Das heißt, Sie haben kein Verständnis für die Zurückhaltung des Bundeskanzlers?

Ich möchte nicht, dass es persönlich wird. Aber die Wahrnehmung ist in weiterer Ferne zur Front noch immer nicht so scharf wie die unsrige in der Region. Wir haben schon lange davor gewarnt, dass Russland einen anderen Weg einschlägt.

Sie argumentieren ähnlich wie Frankreichs Präsident Macron. Er hat gerade gefordert, als Konsequenz Bodentruppen in der Ukraine nicht auszuschließen. Stimmen Sie mit ihm überein?

Ich stimme mit dem Ziel überein, das er erreichen will - strategische Ambiguität. Wir sollten nicht sagen, wir werden dieses tun, jenes aber niemals. Dann kann uns Putin lesen wie ein Buch. Er schlägt es auf und sieht, was wir alles nicht tun werden, aber das beeinflusst sein Handeln in keiner Weise.

In Deutschland gibt es große Angst, dass Russland irgendwann Atomwaffen einsetzen könnte. Ist diese Sorge irrational?

Sie ist völlig irrational. Und die Frage ist, ob wir es verhindern, so wie wir uns verhalten. Ich habe da ernste Zweifel. Denn Putin kalkuliert nicht so, wie wir es tun. Der größte Fehler unserer Freunde war zu glauben, er sei ein rationaler Anführer in dem Sinne, dass er in denselben Kategorien denkt wie westliche Politiker, die sich einer Opposition und einer freien Presse gegenübersehen, durch einen Rechtsstaat gebunden sind und sich Wahlen stellen müssen. Putin ist völlig rational, aber er folgt einer anderen Rationalität. Er tut, was immer er für nötig erachtet, um sich an der Macht zu halten.

Aber macht das den Einsatz von Atomwaffen unwahrscheinlicher oder wahrscheinlicher?

Es ist schwierig, sich in seinen Kopf zu versetzen. Aber wir sollten nicht meinen, dass er sich von uns durch freundliche Bitten umstimmen lässt.

Sie haben nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Jahr 2022 gesagt, Deutschland habe endlich verstanden. Erhalten Sie das aufrecht?

Ja, das sehe ich immer noch so: Es hat sich an vielen Schritten gezeigt, die Deutschland gegangen ist, seitdem es angefangen hat, der Ukraine Waffen zu liefern. Es zeigt sich daran, dass wir nicht mehr darüber diskutieren, ob Deutschland dauerhaft Soldaten in meinem Land stationiert, sondern über die praktische Umsetzung. Etwas Vergleichbares hat Deutschland nie zuvor getan.

Weil Sie es ansprechen, können Sie garantieren, dass das nötige Geld und die zivile und militärische Infrastruktur für die Bundeswehrbrigade mit 4800 Soldatinnen und Soldaten bereitgestellt werden?

Unsere Verteidigungsministerien kümmern sich darum. Bei der zivilen Infrastruktur ist es etwa wichtig zu wissen, wie viele der Soldaten mit ihren Familien kommen, mit wie vielen Kinder, und wie viele allein kommen und eher regelmäßig nach Hause reisen wollen. Davon hängt ab, ob wir Kindergärten brauchen oder Flugverbindungen in deutsche Städte. Auch werden wir uns über die Aufteilung der Kosten einigen müssen. Natürlich werden wir den größten Teil übernehmen. All das macht gute Fortschritte und sollte bis Mitte des Jahres geklärt sein. Was die militärische Infrastruktur angeht: Die werden wir zu 100 Prozent stellen.

Sind Sie sicher, dass die Brigade in Litauen stationiert ist, bevor ihrem Land etwas zustößt?

Ich bin guter Hoffnung. Ich würde nicht einmal sagen, dass ich erwarte, dass meinem Land etwas geschieht. Aber ich bin sicher, dass es auf zwei Dinge ankommt: Das eine ist der politische Wille im Kreml - den Willen zur Konfrontation hat Russland immer wieder bekräftigt. Der andere Teil der Gleichung sind Russlands Ressourcen, die sehr davon abhängen, was weiter in der Ukraine geschieht.

Können Sie sich auf Artikel fünf verlassen, die Beistandsgarantie der Nato?

Wir alle wissen, was in Artikel fünf steht. Aber wir haben in den vergangenen Jahren leider lernen müssen, dass es Dinge gibt, die nicht so schwarz und weiß sind. Es gibt hybride Angriffe, es gibt Cyberattacken, Propaganda, die darauf zielt, unsere Gesellschaften zu spalten, radikale Parteien zu stärken.

Ist nicht die Entschlossenheit und Geschlossenheit der Nato auch ein Faktor? Putin wird Artikel fünf irgendwann testen - vor allem, wenn er in den USA infrage gestellt wird, sollte Donald Trump die Präsidentenwahl gewinnen.

Entscheidend ist, was die Nato-Staaten tun, und das unterscheidet sich fundamental von dem, was sie nach der Invasion der Krim 2014 getan haben. Damals gab es ein paar Sanktionen, die Präsenz der Nato an der Ostflanke wurde verstärkt. Jetzt sprechen alle europäischen Länder darüber, wie wir unsere Rüstungsindustrie so aufstellen, dass wir uns versorgen können. Die Verteidigungsausgaben steigen; in manchen Ländern erreichen sie vier Prozent der Wirtschaftsleistung. Deutschland stationiert Soldaten bei uns, Schweden und Finnland sind der Nato beigetreten, auch das ein Wendepunkt.

Deutschland hat nun unter Mühen das Zwei-Prozent-Ziel der Nato erreicht. Wird man das Ziel beim Nato-Gipfel in Washington im Juli höher stecken müssen? 2,5 oder gar drei Prozent der Wirtschaftskraft für Verteidigung?

Wir befinden uns in einer sehr gefährlichen Situation und es ist schwer zu sagen, wie viel genug ist. In gewisser Weise macht es mich traurig, dass wir einen so großen Teil unserer Wirtschaftskraft in Waffen und Munition investieren müssen. Aber das Dilemma zwischen Butter und Kanonen ist keines, denn es kann sehr gut sein, dass wir ohne Kanonen keine Butter haben werden.

Im November könnte Donald Trump wieder zum US-Präsidenten gewählt werden. Vertrauen Sie als vergleichsweise kleines Land mit Grenze zu Russland eher dem Transatlantiker Scholz oder dem französischen Präsidenten Macron, der auf europäische Souveränität setzt?

Es ist an den Menschen in den USA zu entscheiden, wer ihr Präsident wird. Ich habe nicht den Luxus, mir auszusuchen, mit welcher US-Regierung ich arbeiten will. Das transatlantische Band steht für uns außer Frage. Europa hat Hausaufgaben zu erledigen. Das betrifft nicht nur die Verteidigungsausgaben, sondern auch die Produktionskapazitäten in der Rüstung. Der Krieg tobt in Europa, nicht in den USA. Es liegt in unserer Verantwortung, schneller zu werden und mehr zu tun. Ich glaube nicht, dass es eine europäische Armee geben sollte. Wir sollten uns auf das konzentrieren, wo wir besser werden können.

Sollte die Ukraine verlieren, was würde das für die Sicherheit Ihres Landes bedeuten?

Beides hängt von uns ab. Die Fähigkeit der Ukraine zu gewinnen, hängt von uns ab. Wenn wir nicht in der Lage sind, die Ukraine so zu unterstützen, dass sie gewinnt, ist es zu hundert Prozent unser Problem. Dann rückt der Kampf näher an unsere Grenze. Putin hat klar gesagt, dass Russland keine Grenze kennt. Was unser Land betrifft: Unsere Leute haben nach dem Zweiten Weltkrieg zehn Jahre in den Wäldern gekämpft. Wir können kämpfen, aber wir sind ein kleines Land. Für uns ist die Nato überlebenswichtig.

Kann die Ukraine sich behaupten, ohne Nato-Mitglied zu werden?

Ja, das kann sie. Aber nach dem Krieg muss sie unbedingt aufgenommen werden. Das ist keine Frage.

Die Ukraine ist einer der EU-Beitrittskandidaten. Kann es ohne eine Reform der EU eine Erweiterung geben? Deutschland verlangt etwa Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik.

Das ist nicht leicht zu beantworten. Wann immer über Sanktionen geredet wird, ist ein Land dagegen und ...

Ungarn.

... und in dem Augenblick kommen einem alle möglichen Gedanken. Trotzdem: Es ist die Schönheit der Europäischen Union, dass alle Staaten, klein oder groß, gleich sind. Es wird Sie nicht überraschen, dass mir als Vertreterin eines kleinen Landes wichtig ist, dass unsere Stimme genauso viel zählt wie die eines großen. Ich sage nicht, dass darüber nicht diskutiert werden kann. Eines will ich aber verhindern - dass diese Frage verknüpft wird mit dem Fortschritt einzelner Beitrittskandidaten. Das sind zwei verschiedene Dinge.

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