Als die Nato 1979 beschloss, als Reaktion auf die Stationierung der sowjetischen SS-20-Raketen nuklear bestückte Mittelstreckenwaffen in Europa aufzustellen, verband sie das mit dem Angebot für Abrüstungsverhandlungen. Der Nato-Doppelbeschluss, in der Bundesrepublik damals höchst umstritten, erreichte letztlich sein Ziel: Im INF-Vertrag vereinbarten Washington und Moskau 1987, landgestützte Raketen und Marschflugkörper mit Reichweiten von 500 bis 5500 Kilometern abzurüsten. Erstmals wurde eine komplette Klasse von Waffen verboten.
Russland verstößt seit Jahren gegen den Vertrag. Daran gibt es kaum Zweifel, auch wenn Moskau das beharrlich bestreitet. Erst leugnete der Kreml, dass der Marschflugkörper 9M729 existiere; seit das nicht mehr haltbar ist, heißt es, er verstoße nicht gegen die Abmachung. Es ist nicht allein Präsident Donald Trumps impulsivem Verhalten geschuldet, dass er das Abkommen zu kündigen droht. Schon unter Barack Obama gab es diese Debatte, nur drückte sich der um die Entscheidung - er hätte damit das Scheitern seiner Abrüstungsagenda eingestanden, seiner Vision einer Welt ohne Atomwaffen.
Eine neue Nachrüstungsdebatte hat begonnen, die in Deutschland nicht zuletzt auch aus innenpolitischen Motiven mit einiger Erregung geführt wird. Befeuert wird sie durch neue Drohungen aus Moskau. Tatsächlich ist es unwahrscheinlich, dass Russland ein bereits in den Streitkräften eingeführtes System verschrottet oder in einer transparenten Untersuchung nachweist, dass die in der Nato als SSC-8 bezeichneten Lenkwaffen wie behauptet INF-Limits entsprechen.
Russland hat diese Waffen nicht versehentlich entwickelt und stationiert, sondern weil es sich militärischen Nutzen davon verspricht. Die Möglichkeit, nukleare Sprengköpfe unterhalb der Schwelle der strategischen Atomwaffen in einem regionalen Krieg einsetzen zu können, ist, darauf deuten Äußerungen hoher russischer Offiziere, Teil der Militärdoktrin - darin liegt die Ähnlichkeit zur Stationierung der später verschrotteten SS-20-Raketen.
Die Hoffnung gering, dass aus der Eskalation etwas Positives entsteht, gar weitere Abrüstung
Nur ist diesmal die Hoffnung gering, dass aus der Eskalation etwas Positives entsteht, gar weitere Abrüstung. Im Kreml wie im Weißen Haus sitzen Verächter der Rüstungskontrolle. Das macht ernsthafte diplomatische Bemühungen um die Rettung des INF-Vertrags unwahrscheinlich und das Geschäft möglicher Vermittler wie etwa Deutschland schwer.
Präsident Wladimir Putin hat schon vor mehr als zehn Jahren erklärt, der INF-Vertrag sei nicht mehr im russischen Interesse. Das war eine Reaktion auf Amerikas Ausstieg aus dem ABM-Vertrag, der die Raketenabwehr begrenzte. Putin betreibt konsequent die Modernisierung der russischen Atomwaffen. Und er trägt zur Aushöhlung der Chemiewaffenkonvention bei, indem er Syriens Diktator Baschar al-Assad unterstützt, der das Nervengas Sarin gegen sein Volk einsetzt; Putin hat sogar den Militärgeheimdienst GRU einen abtrünnigen Agenten mit dem Kampfstoff Nowitschok vergiften lassen.
Präsident Trump wiederum hat, getrieben von seinem Sicherheitsberater John Bolton, das Atomabkommen mit Iran gekündigt. In seiner großspurigen Art begrüßte er das neue Wettrüsten, das er selbstverständlich gewinnen werde. Auch Trump lässt das Nukleararsenal der USA modernisieren und protzt mit der Größe seines Atomknopfes. Russlands Verstöße gegen den INF kommen den Falken in Washington zupass, denn als wichtigsten strategischen Konkurrenten betrachten sie längst China - eine Atommacht, die nicht durch den INF gebunden ist und mit Mittelstreckenraketen US-Stützpunkte und Verbündete in Asien bedroht. Peking übrigens weist alle Forderungen nach einer Selbstbeschränkung brüsk zurück.
Nicht einmal die Verlängerung des 2021 auslaufenden New-Start-Vertrags zwischen Russland und den USA zur Begrenzung strategischer Atomwaffen ist sicher. Damit wären die Atomarsenale der beiden einstigen Supermächte erstmals seit 1972 ohne jegliche Limits. Das würde einen Zusammenbruch der einst auf vielen Pfeilern gebauten Architektur der Rüstungskontrolle gleichkommen. Wenn sich dazu Nordkorea als weitere De-facto-Nuklearmacht etabliert, gerät auch der Atomwaffensperrvertrag ins Wanken.
Die USA, China und Russland liefern sich in anderen Domänen ohnehin schon einen scharfen Rüstungswettlauf: Bei Hyperschall-Waffen und anderen neuartigen Trägersystemen, bei der Entwicklung automatischer Waffensysteme, bei der militärischen Nutzung künstlicher Intelligenz und der Cyber-Kriegsführung. Versuche, diese Entwicklungen wenigstens mit rechtlichen Leitplanken zu flankieren, laufen ins Leere. Zu groß ist die Versuchung, die geopolitische Balance zu verschieben und den entscheidenden militärischen Vorteil herauszuschlagen. Dieser Gewinn ist für Russland wie für die USA beim Wegfall des INF-Vertrages überschaubar, und trotzdem ist schon dabei die Chance auf eine Einigung denkbar gering.