Genau vier Schritte braucht Zamina* für ihre Verwandlung. Erstens, umschauen, ob auch keiner guckt. Zweitens, schnell das Kopftuch runterreißen und in die Tasche stopfen. Drittens, Frisur zurechtwuscheln. Und viertens, eine dünne Kette mit Kreuz um den Hals binden. Dann heißt Zamina Lolo und fühlt sich frei. Zamina ist 23 Jahre alt und lebt mit ihrer Familie in einem konservativen muslimischen Stadtviertel von Damaskus. So oft sie kann, verschwindet sie nach Bab Tuma, in das christliche Viertel der syrischen Hauptstadt. Hier kennt man sie als Lolo. Der Name gehört zu ihrem Spiel mit der Identität. Er ist all das, was sie so weit wie möglich von ihrem "dummen, dummen Vater" wegbringt.
Lolo darf nicht studieren und einen Job hat sie auch nicht. "Stattdessen muss ich rumsitzen und warten, bis ich verheiratet werde", sagt sie. Als Zamina muss sie das Kopftuch tragen, der Vater will es so. Außerhalb von Bab Tuma traut sie sich nicht, es abzunehmen. Als Lolo aber pfeift sie auf Religion, "auch das mit dem Kreuz ist nur zum Spaß". Sie ist ein kleines resolutes Mädchen. Aber sie versucht durch Taten und Aussehen, selbst mit Kopftuch, ihre Wirklichkeit hinter sich zu lassen. Roter Lippenstift, glitzernde Ketten, ständig neue Klamotten gehören dazu - und "kiffen, Wodka, flirten", sagt sie, gehören auch dazu. "Würde mich mein Vater so sehen, er würde mich sicher umbringen", sagt sie stolz. Er hat sie noch nicht mit Naima* gesehen, ihrer besten Freundin. Und ihrer ersten Liebe.
"Wir sind seit zwei Jahren ein Paar", erzählt Lolo. Und Paar, das bedeutet, "wir machen es miteinander, fast täglich". Naima ist 24 und arbeitet als Sekretärin. Nach der Arbeit zieht sie mit Lolo durch das christliche Viertel. Die Mädchen suchten die Liebe zueinander, weil sie die Liebe an sich suchten. Wie fühlt sich Liebe überhaupt an? Was macht sie mit mir? Die Antworten sucht Lolo, wenn sie mit Naima im Bett ist. "Es ist unbeschreiblich schön", sagt sie. Und: "Du hast keine Ahnung, wie viele Freundinnen hier miteinander ihre ersten Erfahrungen sammeln." An ihrem Hals, gut versteckt unter einem weißen Schal, hängt neben der Kreuz-Kette noch eine weitere. Ein silbernes Amulett mit einer ausgestanzten Sonne. Das Gegenstück besitzt Naima.
Homosexualität gibt es nicht im Nahen Osten. Das behaupten zumindest viele hier: die Regierungen, die religiösen Führer, die Familienväter. Homosexualität stört das traditionelle Bild einer kinderreichen arabischen Familie derart, dass sie in Ländern wie Ägypten, Syrien oder Saudi-Arabien als Krankheit bezeichnet und verboten wird: Auf "unnatürliche sexuelle Beziehungen" stehen in Artikel 520 des syrischen Strafgesetzbuchs Haftstrafen von drei Monaten bis drei Jahren. Ähnliche Gesetze finden sich in vielen muslimischen Ländern von Marokko bis Afghanistan. Manche, Iran oder Jemen, führen auf Homosexualität gar die Todesstrafe.
Wo Schwule zum Psychiater gehen
Auch Ramy* litt seine ganze Jugend darunter, jemanden des gleichen Geschlechts zu lieben, aber zu wissen, dass das nicht sein darf. "Ich hasse Lügner und Heuchler", sagt der 23-jährige Ägypter. "Dabei bin ich selbst der Größte." Seine Familie: Vater erfolgreicher Unternehmer und gläubiger Muslim, die Mutter konservativ. Ferienhäuser am Roten Meer und in Alexandria. Das Wohnzimmer voller Bücher, die beste Bildung für die Kinder, ägyptische Oberschicht, einflussreich und bekannt. Irgendwann hatte Ramy das Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen.
Er wählte seine Schwester und das war ein Fehler. Zwar wohnt und arbeitet diese die meiste Zeit des Jahres in New York und hat dort schwule Bekannte. Homosexualität beim eigenen Bruder kann sie jedoch nicht akzeptieren. Und: Sie erzählte alles dem anderen Bruder. Gemeinsam üben sie Druck auf Ramy aus. Sie sagen, er sei krank, ihm müsse geholfen werden. Und sie würden ihm helfen, ob er das wolle oder nicht. Er selbst bot daraufhin an, zu einem Arzt zu gehen, nur, um wieder seine Ruhe zu haben. Zu viel Streit unter den Geschwistern könnte die Eltern wachsam werden lassen. "Sollte meine Mutter erfahren, dass ich schwul bin, es würde sie emotional umbringen", sagt er. Dabei war Ramy schon während seiner Schuljahre beim Psychiater. "Ich war depressiv, konnte mit niemandem über meine Sexualität sprechen."
Will man verstehen, warum der Alltag für Homosexuelle in der arabischen Welt so schwer ist, muss man an die Orte gehen, die den Alltag prägen: die Moscheen. Es ist Freitag, in die Zahra-Moschee im Osten von Damaskus strömen die Gläubigen. Gut 4000 Menschen sind gekommen und lauschen der Chutba, der Freitagspredigt von Imam Muhammad Habash. Er spricht dieses Mal von der Stärke der Familie, von der Schönheit der Ehe und er spricht oft von "tadschdid", der Erneuerung des Glaubens. Habash ist Leiter des Zentrums für islamische Studien in Damaskus sowie Abgeordneter im syrischen Parlament. Er gehört zu den führenden religiösen Instanzen des Landes, seine Vorstellung vom Islam gilt als besonders liberal.
"Der Islam verbietet keine neuen Ideen", sagt Habash. Erneuerung und Interpretation des Korans seien wichtig für die muslimische Gesellschaft: "Es gibt mehr als einen Weg zu Gott, konservatives Denken hilft uns im Glauben nicht weiter." Doch fragt man den Imam, wie die Erneuerung aussehe, dann kommt wenig. Lautsprecher am Minarett, Plasmafernseher bei der Predigt, das sei Erneuerung, Freiheit.
Und Sex? Gleichgeschlechtlich, vorehelich? "Nun", sagt Habash, "es gibt keine Freiheit ohne Grenzen". Aber kann man schwul und Muslim sein? Die Frage versteht er nicht; was sei denn "schwul", fragt Habash, als kenne er das Wort nicht. Dann sagt er: Ein guter Muslim und Homosexualität, das gehe nicht zusammen. Wer schwul sei, dem müsse geholfen werden, "sich zu korrigieren". Wer an Gott glaube, müsse seinen Regeln folgen - und was Sex angeht, so seien die ziemlich streng, sagt Habesh. Dabei thematisiert der Koran Homosexualität nur am Rande und nennt sie "unnatürlich". Eine Passage zur Bestrafung gleichgeschlechtlicher Liebe sucht man vergeblich.
"Es ist diese schreckliche Gesellschaft, nicht der Koran", sagt die Schwester und nestelt an seinem Hüfttuch. Die Schwester ist ziemlich dick, hat Haare auf dem Rücken und ein türkisfarbenes Handtuch zu einem Turban geknotet. Sie ist eine Orientversion von Dirk Bach, schrill, lustig, laut. Und sie ist der Star im Hammam al-Dschadid, dem "neuen" Hammam. Das Badehaus ist die inoffizielle Adresse für Schwulensex in Damaskus. Unweit der Altstadt in einer kleinen Gasse versteckt, sieht der Hammam zunächst unverdächtig aus: ein Springbrunnen im Innenhof, ein Präsidentenportrait an der Wand. Doch geht man in die Dampfräume, wandelt sich die Welt. "Huuuh, heut' ist mein Geburtstag", ruft die Schwester. "Du hast hier drin jeden Tag Geburtstag", antwortet ihm ein Chor aus Männern.
"Diese Gesellschaft hier macht dich kaputt"
Wer sich in dem Hammam verabreden will, kneift den anderen in den Hintern oder in den Schritt, dann geht es ab in einen kleinen Nebenraum. Das Pärchen hängt seine Hüfttücher in die offene Tür, wenn es ungestört bleiben will. Die Schwester hat sich einen filigranen Burschen geschnappt und beide stehen küssend neben einer Kabine.
Auch André* ist öfter hier, obwohl er sagt, der Hammam sei eine Welt der Doppelmoral. "Es gibt wahnsinnig viele Schwule in Damaskus", sagt er, "aber die meisten wollen einfach nur schnellen Sex". André aber will lieben. Doch wie findet man einen Freund, wenn der im "wirklichen Leben" eine Frau und drei Kinder hat? "Weißt du, diese Gesellschaft hier macht dich kaputt", sagt der 23-Jährige.
"Du brauchst sehr viel Selbstbewusstsein, um hier als Schwuler klarzukommen", sagt Rabih Maher. Er ist Mitarbeiter bei Helem, der einzigen offiziellen Schwulen- und Lesben-Organisation im Nahen Osten. Die Büros von Helem verstecken sich in einem heruntergekommenen Gebäude in Beiruts Stadtteil Hamra. Einschusslöcher aus dem Bürgerkrieg kleben wie Kaugummis an den Fassaden der Häuser, in der Nachbarschaft eröffnen Szenecafés und Kneipen. Beirut ist, anders als Kairo oder Damaskus, sehr viel offener in Sachen Sexualität. Es ist der Hauptanlaufpunkt für Schwule im Nahen Osten und "gerade deshalb kann unsere Organisation auch nur hier funktionieren", sagt Maher.
Der 30-Jährige ist selbst schwul und weiß, mit welchem Problem die Jugendlichen im Nahen Osten kämpfen: "Familie, Familie und nochmals Familie." Die sicherste Lösung, Ärger zu vermeiden sei, "sich erst mal von der Familie zu lösen und unabhängig zu werden." Maher selbst habe mehrere Jahre nicht mit seinen Eltern reden können. Erst spät hätten beide akzeptiert, wer er wirklich sei.
Doppelleben als Schutz
André ist Armenier, doch im Pass heißt er Muhammad, weil der Vater Muslim ist. Und weil auch der Sohn ein guter Muslim werden soll. Seit zwei Jahren studiert er Französisch an der Universität Damaskus. Hier hat André eine große Gruppe an schwulen und lesbischen Freunden kennengelernt, aber er muss sich auch immer wieder vor Hetero-Freunden verstellen. "Ui, was für ein geiler Arsch, sage ich dann, wenn wir irgendwo unterwegs sind und Mädels hinterher schauen." Wer in arabischen Ländern ein Doppelleben führt, wird von den Autoritäten meist in Ruhe gelassen.
"Solange alles schön traditionell wirkt, ist jeder zufrieden", sagt André, "was dann unter dem Tisch passiert, interessiert keinen". Und in Damaskus passiere viel "unter den Tischen". Neben dem Schwulen-Hammam gibt es Kinos, Clubs und Parks, meist neben Hotels die keine Fragen stellen, in denen sich die Homosexuellen der Stadt treffen können. "Und es gibt immer wieder Privatpartys", sagt André. Doch seit zwei seiner Freunde festgenommen wurden, ist er vorsichtiger geworden und geht nicht mehr auf jede Feier. "Die Polizei interessiert sich eigentlich nicht für uns - aber hin und wieder muss sie wohl ein Exempel statuieren".
Auch in Kairo trifft sich die Szene auf Privatpartys. Zum Beispiel in der Wohnung eines Deutschen im Stadtviertel Dokki. Der Abend verläuft entspannt, nur der Alkohol geht irgendwann aus. Die letzten Dosen Bier befinden sich in den Händen der Gäste. Ein Junge im engen schwarzen T-Shirt umrundet den Küchentisch und durchforstet den Wald aus Flaschen nach den letzten Resten Alkohol. Die meisten der ungefähr 50 jungen Männer feiern ungestört weiter und tanzen im Wohnzimmer zu einem Lied von Shakira. Viele haben von Freunden per SMS von der Party erfahren. So groß die Stadt auch ist, die Schwulenszene ist überschaubar. Man kennt sich.
Die ohnehin schon große Hitze in Kairo verwandelt das Apartment innerhalb kurzer Zeit in eine Sauna. Einer der Feiernden zieht sein T-Shirt aus, andere verschaffen sich auf dem Balkon Abkühlung. Dass unten zwei Polizeibeamte vorbeilaufen und nach oben schauen, besorgt sie nicht. "Die machen doch eh nichts", sagt ein Junge. "So lange wir uns hier draußen nicht küssen, ist es einfach nur eine Party mit vielen Männern." Er winkt den Polizisten mit seiner Bierdose in der Hand zu. "Schau, das hier ist Privatgelände, hier darf ich sogar Alkohol trinken."
"Als schwuler Ausländer habe ich hier keine Probleme", sagt der deutsche Gastgeber. Es ist nicht die erste Party, die er veranstaltet. Die Polizei sei sogar schon ein paar Mal zu ihm nach oben gekommen. "Dann drücke ich ihnen 100 Gineh, das sind etwa zwölf Euro, in die Hand und sie gehen wieder." Landesverweis sei das Schlimmste, was man als weißer Europäer erwarten könne. Verfolgt und eingesperrt werden die ägyptischen Jungs.
Deshalb meiden viele schwule Ägypter solche Partys. Auch Ramy geht nicht auf die Feste. Zu hoch sei das Risiko, dass man erkannt wird. "Die Ägypter tratschen sehr gerne, Schwule sowieso", sagt er. Dabei sucht sucht die Polizei in Ägypten nicht mehr wirklich aktiv nach Schwulen. Der 1961 erlassene debauchery act gilt zwar nach wie vor. Er ist ein Relikt aus der Kolonialzeit, um Prostitution einzudämmen. Der eigentliche Prostitutions-Begriff wurde nach und nach aufgeweicht. Heute sind darunter ganz allgemein "sexuelle Ausschweifungen" zu verstehen. Er wird gegen Schwule und unverheiratete Paare angewandt, die miteinander Geschlechtsverkehr haben. Jedes Jahr kommt es zu Festnahmen.
Aber das ist nicht einmal Ramys größte Sorge. "Sollte über mich getratscht werden, ist der Ruf meiner Familie hinüber." Und eine Familie besteht in Ägypten aus dutzenden Personen, dazu Freunde, Kollegen und Bekannte. "Es ist hier nicht wie in Europa. Wir sind keine individualistische Gesellschaft, wo du einfach dein Ding machen kannst. Die Verwandtschaft ist alles. Ich lebe hier in diesem unglaublich tollen Gefängnis und genieße viele Privilegien, die andere Ägypter nicht haben", erzählt er. "Ich habe alles. Nur keine Freiheit."
Aus diesem Gefängnis gibt es für Ramy keinen Ausweg. Für ihn nicht, und für die meisten jungen Schwulen im Nahen Osten nicht. "Das 'Coming Out' ist ein westliches Konzept", erzählt Hossam Bahgat, Direktor der Egyptian Initiative for Personal Rights (EIPR). Im Nahen Osten leben viele Männer, ohne je überhaupt daran zu denken, sich mitzuteilen. Denn oft würden sie wie Ramy von Verwandten dazu gedrängt werden, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben. Im guten Fall hieße das: Gruppengespräche. Im schlechten Fall: Aversions-Therapie. Dabei werden dem "Patienten" homoerotische Szenen gezeigt. Während er diese betrachtet, bekommt er Elektro-Schocks. So soll eine negative Verknüpfung im Gehirn entstehen.
Helem, die Organisation aus Beirut, befragte libanesische Ärzte zum Thema - das Ergebnis belegt, in welchem Verhältnis Homosexualität und Medizin im Nahen Osten stehen. Über zwei Drittel der Ärzte halten Homosexualität für eine Krankheit, die medizinischer oder psychologischer Behandlung bedürfe. "Dabei trauen sich aber viele die Behandlung selbst nicht zu", sagt Rabih Maher von Helem, 85 Prozent der Befragten denken, nur mit "spezieller Erfahrung" könne man homosexuelle Patienten behandeln.
"84 percent unhappy today"
Vielen Schwulen bleibt nur die Möglichkeit, in der Anonymität des Internets nach Liebe, Freundschaft oder Sex zu suchen. Doch in der Szene populäre Seiten wie manjam.com oder gayromeo.com würden von Schwulenhassern mit gefälschten Profilen unterwandert, sagt Ramy. "Wenn sie dich dann treffen, verprügeln sie dich und verpetzen dich an die Polizei." Falls diese nicht selbst mit falschen Online-Identitäten Jagd auf Homosexuelle mache.
Einige Schwule und Lesben sind durch solche Aktionen misstrauisch geworden. Unterschiedliche Facebook-Accounts für schwule und Hetero-Freunde sind nichts Ungewöhnliches. Auch Zamina und ihre Freundin Naima aus Damaskus schlüpfen im Netz in neue Rollen. Zum Schutz vor der Familie. Zamina, die mit ihrem Alter Ego Lolo bereits eine Identität für das Christenviertel der Stadt erschaffen hat, ist auf Facebook als Yulia angemeldet.
"Das ist doch klar, dass ich mich verstecke", sagt sie, "da gibt es Fotos ohne Kopftuch von mir, da gibt es Küsse mit Naima". Was es auf ihrem Profil auch zu sehen gibt, sind viele kleine Hilferufe: "I hate my life" steht dort, oder "Why am I so sad?" Ein Gute-Laune-Test attestiert der virtuellen Yulia: "You are 84 percent unhappy today".
Das Schicksal junger Homosexueller im Orient ist, dass sie wenig Gesprächspartner finden. Dass sie sich nicht mitteilen können. Dass überhaupt das Thema Sex keine Rolle spielen darf. Liebe unter Jugendlichen ist laut Lolo nur so möglich: Jungs nehmen sich ihre Kumpels mit auf das Zimmer und Mädchen ihre Freundinnen. Einige, weil sie wirklich so fühlen, andere, weil sie einfach nur irgendwas fühlen wollen. "Eigentlich weiß meine Mutter Bescheid", sagt sie. Als Lolo mit Naima im Bett "zugange" war, sei die Mutter einmal überraschend hereingekommen. Dem Vater habe die Mutter nichts davon erzählt, und "mit mir hat sie auch nie darüber geredet", sagt Lolo. Es existiert nicht, was nicht ausgesprochen wird.
*Namen geändert