Holocaust:Die Todesmutigen

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Sechs Millionen tote Deutsche: So war der Racheplan von Abba Kovner (rechts), hier auf einem Foto 1948 im Kreise seiner Kämpfer von Nakam. (Foto: Alamy/Historic Collection/Mauritius Images)

Was konnten Jüdinnen und Juden dem deutschen Terror in der NS-Zeit entgegensetzen? Mehr, als gemeinhin bekannt ist. Drei Bücher über jüdische Widerstandsnetzwerke geben Einblicke in einen Kosmos, der zeigt, dass man nicht wehrlos war - auch wenn es oft nur um die Selbstachtung ging.

Von Stephan Lehnstaedt

Was hätten wir denn sonst tun sollen? Für die Überlebenden des Holocaust ist das meist eine rhetorische Frage, denn sie haben überlebt. Aktiven Widerstand leisteten nur die wenigsten von ihnen - zumindest wenn man unter "Widerstand" ausschließlich den bewaffneten Kampf gegen die Deutschen versteht. Doch auch die Flucht aus dem Ghetto, das Überleben im Versteck und in einer feindlichen und feindseligen Umgebung erforderten tagtägliche Entscheidungen über Leben und Tod und wahrlich aktives Handeln, unbändige Energie und Geschick. Gerade angesichts des Staatsziels Judenmord ist Überleben an sich wohl schon ein Akt des Widerstands. Und das gilt durchaus auch für diejenigen, die aus Lagern und nach Todesmärschen befreit wurden - hierfür war ebenfalls viel mehr als lediglich Glück notwendig.

Wirklich nur "Lämmer zur Schlachtbank"?

Die Opfer waren keineswegs passiv. Es ist die überwältigende Totalität dieses Genozids, die in der Rückschau dieses Bild hervorruft. Es sind die ewig gleichen Fotos von zerlumpten, verhungerten Gestalten, eingesperrt in Ghettos oder Konzentrationslagern, die gleichsam komplementär zu den "Herrenmenschen" mit ihren Uniformen und Waffen zu passen scheinen. Eine verquere Vorstellung jenseits der Realität, die auch von selbstzerfleischenden innerjüdischen Debatten über die "Lämmer zur Schlachtbank" genährt wurde.

Die Agenda, das aktive Handeln der Verfolgten, ist freilich erst in jüngster Zeit stärker in den Fokus der Geschichtswissenschaft gerückt. In Deutschland stehen vergleichsweise wenige Studien einem jahrelangen Boom der Täterforschung gegenüber. Umso wichtiger sind daher Bücher wie das von Judy Batalion über Jüdinnen im Widerstandskampf. Sie widmet sich den Untergrund-Netzwerken im besetzten Polen, die vor allem aus Jugendorganisationen verschiedener politischer Richtungen entstanden. Deren ursprüngliche Ziele - etwa die Vorbereitung für die Alija, die Emigration nach Israel, oder die Gleichberechtigung in der polnischen Heimat - wurden durch Besatzung und Verfolgung obsolet. Einer Phase der Neuorientierung folgte schnell der Wille, dem deutschen Terror etwas entgegenzusetzen.

Konspiration wollte gelernt sein

Das hieß zunächst nicht, in einen bewaffneten Kampf einzutreten, denn dafür schienen die Deutschen militärisch viel zu überlegen zu sein, während man selbst über kaum mehr als Messer und vor allem Mut verfügte. Und so ging es erst einmal darum, die Kontakte zu den in vielen Hundert deutschen Ghettos eingesperrten Mitstreitern aufrechtzuerhalten - keine leichte Aufgabe, waren diese doch gerade mit dem Ziel errichtet worden, die Jüdinnen und Juden von der übrigen Gesellschaft zu separieren. Sich heimlich auf die "arische Seite" zu begeben, war lebensgefährlich, denn darauf stand die Todesstrafe. Schon kleine Unsicherheiten konnten dazu führen, entdeckt zu werden: ein falsch aufgesagtes Gebet, unachtsame Gesten, auffällige Besorgungen - Konspiration wollte gelernt sein. Das galt umso mehr, als selbst die polnischen Landsleute oft antisemitisch eingestellt waren und Denunziation oder Erpressung eine ständige Gefahr blieben.

Judy Batalion: Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns. Die vergessene Geschichte jüdischer Freiheitskämpferinnen. Aus dem Englischen von Maria Zettner. Piper- Verlag, München 2021. 624 Seiten, 25 Euro. E-Book: 19,99 Euro. (Foto: N/A)

Es waren gerade Frauen, die sich als Kurierinnen eigneten: Anders als die Männer waren sie auf weltlichen Schulen gewesen, hatten viel mehr Berührungen mit der polnischen Umwelt, konnten sich ohne einen starken jiddischen Akzent verständigen und waren auch nicht beschnitten, was bei Kontrollen ein großer Vorteil war. Ihre Initiative, ihre Mobilität und ihre Selbstbestimmtheit waren in jener Zeit schon per se bemerkenswert. Nun aber kam Todesmut dazu, denn viele Botinnen wurden trotzdem entdeckt und getötet. Dennoch übernahmen sie das Besorgen von Vorräten und Waffen, führten Verhandlungen und lotsten Flüchtige zu den Partisanen. In den Worten Chaika Grossmans, selbst Untergrund-Kurierin und später Präsidentin der Knesset: "Die jüdischen Mädchen waren der Lebensnerv der Bewegung."

Jenseits dessen waren sie gleichrangige Mitglieder eines Widerstands, der sich in der zweiten Kriegshälfte zusammenschloss und immer mehr zu dem Entschluss kam, auch kämpfen zu müssen. Unschuldig wirkende, "arisch" aussehende Kämpferinnen verübten Anschläge auf die Besatzer und ihre Cafés, organisierten Ausbrüche aus den Ghettos und ergriffen die Waffen, wenn es zu Aufständen kam. Am spektakulärsten geschah das in Warschau im April 1943 - so beeindruckend, dass die polnische Heimatarmee darin ein unbedingtes Vorbild erkannte, als sie gut ein Jahr später selbst zum Aufstand überging -, aber auch in vielen anderen Orten des besetzten Osteuropa.

Die Anführer kennt man, die Frauen wurden vergessen

Der Anteil der Frauen war nicht geringer als der der Männer, aber hier haben wir es mit einem doppelten Vergessen zu tun, weil die Anführer eben doch im Vordergrund standen: Yitzhak Zukierman, Abba Kovner oder Marek Edelman sind auch in Deutschland bekannt, Zivia Lubetkin, Chaika Klinger oder Renia Kukielka dagegen viel weniger. Ihrem Schicksal folgt Batalion mit viel Empathie und Sympathie. Sie schildert eindrucksvoll, was es bedeutete, ständig Angst zu haben, sich einsam und so gar nicht heldenhaft zu fühlen, aber doch das eigene Leben zu leben, gegen den Holocaust und gegen die Besatzung. Kampf war nur der kleinste Teil dabei, Warten, Hoffen, Verstecken und Angst dominierten. Gerade diese einfühlsame Darstellung der Alltäglichkeit im Untergrund ist die große Stärke des ebenso lesenswerten wie lesbaren Buches.

Zivia Lubetkin, einst im jüdischen Widerstand aktiv, bei ihrer Zeugenvernehmung im Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961. (Foto: Everett Collection/Imago)

Die Schwächen der historischen Reportage liegen im analytischen Bereich. Batalion betrachtet zwar Fragen von jüdischer und weiblicher Identität, aber sie unternimmt keine systematischen Versuche, etwa die Herkunft oder die Motivation ihrer Protagonistinnen zu erkunden oder innerhalb der Widerstandsbewegungen zu kontextualisieren. Perspektiven jenseits der weiblichen Heldinnen interessieren sie nicht, und allzu oft geraten Ausführungen über die deutsche Verfolgung oder den polnischen Widerstand holzschnittartig und klischeehaft. Die Ausgangsfrage "Warum wusste ich von all dem nichts?" ist deshalb auch sehr amerikanisch und bewusst unwissenschaftlich. Hierzulande aber erschien bereits 1998 in der Schwarzen Reihe des Fischer-Verlags eine Studie über jüdische Frauen im Widerstand. Ingrid Strobl ging darin höchst analytisch und kaum weniger sensibel dem Schicksal teils der gleichen Untergrundkämpferinnen nach, freilich in einem groß angelegten Vergleich, der auch den Westen miteinbezog.

Bei all den vielschichtigen Widerstandsnetzwerken ist allerdings immer klar, dass deren Dimension letztlich bescheiden war. Für die allermeisten Jüdinnen und Juden war Kampf keine Option, denn sie hatten Familie, waren zu alt oder schlicht zu sehr mit dem eigenen Überleben beschäftigt, um sich darüber hinaus Gedanken zu machen. Und trotz der Öffentlichkeit des Holocaust war es für die Zeitgenossen schwer zu verstehen, dass die Deutschen letztendlich kein bisschen ökonomische Rationalität an den Tag legten und die Arbeitskraft der Opfer nicht ausbeuten wollten - dass es keinerlei Hoffnung auf Überleben geben sollte.

Dina Porat:"Die Rache ist Mein allein". Vergeltung für die Schoa: Abba Kovners Organisation Nakam. Aus dem Hebräischen von Helene Seidler. Schöningh-Verlag, Paderborn 2021. 394 Seiten, 34,90 Euro (Foto: N/A)

Angesichts dessen hatte der Widerstand auch eine hochsymbolische Komponente, denn er bewies, dass die Jüdinnen und Juden eben nicht wehrlos waren. 1945 war dies eine wesentliche Motivation für die 57 Männer und Frauen um Abba Kovner - der Anführer des Widerstands im Wilnaer Ghetto und gefeierte Poet -, die sich in der Organisation Nakam zusammenschlossen. Ihr Ziel: die Rache an den Deutschen und die Abschreckung anderer, potenzieller Verbrecher und gegenwärtiger Antisemiten. Sie empfanden es als Vermächtnis gegenüber den Toten, deren Ermordung nicht einfach hinzunehmen: Indem sie sich weigerten, einfach zur Tagesordnung zurückzukehren, wollten sie ein Zeichen dagegen setzen, dass der Holocaust - und allgemein antisemitische Gewalt - quasi eine Normalität darstellte, der sich Jüdinnen und Juden schlicht zu fügen hätten.

Die ursprüngliche Absicht, sechs Millionen Deutsche zu töten, erwies sich rasch als unrealistisch, denn der Rückhalt jüdischer Politiker in Palästina fehlte - sie wollten die Auswanderung fördern und lediglich gezielt SS-Täter liquidieren. Und während die Emigration ein großer Erfolg war, auch mit Unterstützung von Kovners Gruppe, blieb deren einzige Aktion, ein Anschlag auf die Bäckerei eines Kriegsgefangenenlagers in Nürnberg, ohne schlimmere Folgen: Etwa 200 Deutsche mussten zwar wegen einer Magenvergiftung behandelt werden, doch Tote waren nicht zu verzeichnen. Lediglich in Zusammenarbeit mit der Jewish Brigade - einer jüdischen Abteilung der britischen Armee - gelang es tatsächlich, einzelne SS-Männer zu töten, aber das Ausmaß dieser Aktion ist bis heute ungeklärt.

Dina Porat, die ehemalige Chefhistorikerin von Yad Vashem, analysiert mit großer Prägnanz Handeln und Motivation dieser Kämpferinnen und Kämpfer, was schon alleine wegen der bis heute von ihnen gepflegten Geheimhaltung eine bemerkenswerte Leistung ist. Zugleich schildert sie mit sprechenden Details aus umfassenden Archivstudien und Gesprächen eine spannende und ergreifende Geschichte über jüdische Selbstachtung. Zugleich zeigt Porat deutlich, wieso Nakam sich als politischer Selbstmord Kovners erwies, dem viele eine brillante Karriere in der Nachkriegszeit zugetraut hatten - doch gar zu verbrecherisch waren seine Intentionen und zu verbissen verfolgte er sie.

Trotz allem kam es nicht zu Rache-Aktionen

Das eigentlich Erstaunliche ist dennoch, dass es nicht zur Rache kam, obwohl tatsächlich so viele Überlebende die Täter hassten, die ihre Familien und Freunde ermordet hatten. Die Erklärung dafür ist vermutlich, dass sie schlicht Wichtigeres zu tun hatten und, anders als die Nationalsozialisten, Mord für sie weder politisches Programm noch ideologische Überzeugung war. Deshalb blieb selbst die Verzweiflung von Kovners Anhängern, die ihren Glauben an die Welt verloren hatte, eine temporäre Erscheinung; als Kibbuzim gingen sie nach Israel und begannen ein neues Leben.

Ungewollt trug das zum eingangs beschriebenen Bild der passiven Opfer bei, obwohl die Nakam-Gruppe sich noch mehr als fünfzig Jahre später ein Versagen angesichts einer moralischen Verpflichtung vorwarf. Im Gegensatz zu dieser gar nicht so seltenen unversöhnlichen Einstellung sehen die Deutschen in Holocaust-Überlebenden heutzutage mit Vorliebe altersmilde Persönlichkeiten, deren Konzilianz und Lebensfreude immer wieder betont wird. Und das ist einerseits richtig und in der Tat angesichts von sechs Millionen Toten bemerkenswert. Es ist andererseits aber auch ein Zerrbild, es sind die Überlebenden, die wir sehen möchten, deren Wohlwollen wir uns dank "Wiedergutmachung" und "Vergangenheitsbewältigung" gewissermaßen verdient haben: Wir vergeben uns selbst, indem wir sie zu Heiligen erheben. Dies folgt einer Logik, die dem Automatismus einer moralischen Überlegenheit von Opfern huldigt - weshalb auch auf internationaler Bühne allenthalben nach diesem Status gestrebt wird. Was dann wiederum zu Empörung führt, wenn daraus finanzielle Ansprüche abgeleitet werden.

Achim Doerfer:"Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen". Die Rache der Juden, das Versagen der deutschen Justiz nach 1945 und das Märchen deutsch-jüdischer Versöhnung. Kiepenheuer&Witsch, Köln 2021. 368 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

Achim Doerfers Streitschrift setzt hier an. In einem weiten Bogen von Nakam über mangelnde Strafverfolgung bis hin zur unzureichenden "Wiedergutmachung" will der Rechtsanwalt und Nachkomme von Holocaust-Überlebenden das deutsche Bild von Jüdinnen und Juden korrigieren. Sein Ausgangspunkt ist ebenfalls der jüdische Widerstand, aber der Zusammenhang zur deutschen "Vergangenheitsbewältigung" in all ihren problematischen Facetten bleibt unklar. Zudem führt die unzureichende Beschäftigung mit der historischen Materie immer wieder zu grotesken Fehlern, etwa wenn er von gleich zwei Aufständen im Vernichtungslager Treblinka spricht oder sich im Dickicht unbelegter Kalkulationen zur Entschädigung verliert. All das irritiert, aber aus anderen Gründen als in dieser durchaus großen Polemik beabsichtigt.

Normal menschlich dachten und handelten im Holocaust - und danach - die Jüdinnen und Juden. Das kann gar nicht genug betont werden. Erklärungsbedürftig ist dagegen das deutsche Verhalten. Die Frage nach Würde und Passivität sollte unsere Gesellschaft nicht an die Opfer richten, sondern sich selbst stellen.

Stephan Lehnstaedt ist Historiker und Professor für Holocaust-Studien und Jüdische Studien am Touro College Berlin.

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