Historie:Gespaltene Seelen

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Der anarchistische Publizist Gustav Landauer (1870 – 1919) war einer der bekanntesten Köpfe der Münchner Revolution. (Foto: imago/Leemage)

Warum die gescheiterten Münchner Räterepubliken 1919 auch für die Juden zur Tragödie wurden - egal, ob sie die Revolution begrüßten.

Von Michael Brenner

Die Trauerfeier für den ermordeten bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner am 26. Februar 1919 auf dem St. Martinsplatz vor dem Münchner Ostfriedhof war ein Ereignis, das in der Geschichte des deutschen Judentums einmalig dasteht. Ein jüdischer Deutscher, der wenig später selbst Regierungsverantwortung in der bayerischen Räterepublik übernehmen sollte, hielt die Grabrede auf einen jüdischen Ministerpräsidenten, der drei Monate zuvor die sieben Jahrhunderte regierende Dynastie der Wittelsbacher gestürzt hatte.

Beide hatten sich schon lange von der Religion ihrer Vorfahren losgesagt, und doch wussten beide genau, dass sie ihre Bande mit der jüdischen Gemeinschaft nicht lösen konnten. So sagte Gustav Landauer, einer der engsten Weggefährten Eisners und im April 1919 Volkskommissar für Volksaufklärung, Unterricht, Wissenschaft und Künste, vor Tausenden Trauergästen: "Kurt Eisner, der Jude, war ein Prophet, weil er mit den Armen und Getretenen fühlte und die Möglichkeit, die Notwendigkeit schaute, der Not und Knechtung ein Ende zu machen."

Kurt Eisner, der Jude. Meistens waren es seine Feinde, die ihm seine Herkunft unter die Nase rieben. Ein ganzes Konvolut wüster antisemitischer Beschimpfungen findet sich im Nachlass Eisners. Landauer, der nur wenig später von Freikorpssoldaten grausam ermordet wurde, ging es kaum besser. Doch auch unter den Juden selbst war die jüdische Herkunft vieler Revolutionäre ein heftig diskutiertes Thema. In ihrer Mehrzahl waren sie entschiedene Gegner der Revolution. Der Philosoph Martin Buber, ein enger Freund Landauers und ein Bewunderer Eisners, hatte München auf Einladung Landauers im Februar 1919 besucht. Er reiste am Tag der Ermordung Eisners ab und fasste den Eindruck seines Besuchs so zusammen: "Eisner hatte ich in die Dämonie seiner zwiegespaltenen Judenseele hineingesehen, das Verhängnis strahlte aus seiner Glätte hervor, er war gezeichnet. Landauer wahrte sich mit äußerster Anstrengung der Seele den Glauben an ihn und deckte ihn, ein Schildträger von erschütternder Selbstverleugnung. Das Ganze eine namenlose jüdische Tragödie."

Martin Buber, der einflussreichste deutsch-jüdische Philosoph des 20. Jahrhunderts, beobachtete in aller Tragweite, was nur wenige Zeitgenossen wahrnahmen: die jüdische Dimension der Ereignisse. Er hatte Eisner getroffen, er kannte das literarische Werk Erich Mühsams und die ersten Veröffentlichungen Ernst Tollers, Gustav Landauer hatte mehrere Artikel für seine Zeitschrift Der Jude beigesteuert. Dass sie alle nun im Zentrum des politischen Geschehens standen, ließ Buber nichts Gutes erahnen. Wenn er notierte, "eine namenlose jüdische Tragödie", dann meinte der bewusste Zionist damit nicht nur die innerjüdische Zerklüftung und nicht nur die Ermordung Eisners, sondern auch die unsichtbare Mauer, die sich zwischen den jüdischen Revolutionären und ihrer bayerisch-katholischen Umwelt auftat. Buber kannte diese Umwelt besser als die meisten Beteiligten der Münchner Revolution, war doch seine Frau Paula Winkler in München geboren und katholisch aufgewachsen.

Ihre jüdische Herkunft spielte in der Selbstwahrnehmung der Revolutionäre zwar keine zentrale Rolle, aber sie bildete einen Bestandteil ihrer komplexen Persönlichkeiten und wurde ihnen zudem immer wieder von außen vorgehalten. Auch wenn sie ihre formalen Bindungen zur jüdischen Religionsgemeinschaft schon lange gelöst hatten, so war für die meisten der am Münchner Geschehen Beteiligten - im Gegensatz etwa zu Rosa Luxemburg oder Leo Trotzki - ihre jüdische Herkunft mehr als ein lästiger Geburtsfehler.

"Jeder von ihnen gehörte zur Gesellschaft und doch wieder nicht."

Waren sie denn nun wirklich Juden? In seinem mittlerweile klassischen Beitrag zum Verständnis der modernen jüdischen Erfahrung hat der Trotzki-Biograf Isaac Deutscher die Figur des "nichtjüdischen Juden" näher beleuchtet und dabei die im Judentum verwachsene Tradition des jüdischen Häretikers nachgezeichnet. Mit Blick auf Spinoza, Marx, Heine, Luxemburg und Trotzki schrieb er: "Jeder von ihnen gehörte zur Gesellschaft und doch wieder nicht, war ein Teil von ihr und wiederum nicht. Dieser Zustand hat sie befähigt, sich in ihrem Denken über ihre Gesellschaft, über ihre Nation, über ihre Zeit und Generation zu erheben, neue Horizonte geistig zu erschließen und weit in die Zukunft vorzustoßen."

Für die meisten der Münchner Revolutionäre traf dies ebenso zu. Sie waren nicht Teil der organisierten jüdischen Gemeinde, und die meisten von ihnen hatten auch keinen positiven Bezug zur jüdischen Religion oder zur Religion überhaupt. Doch sie verleugneten ihr Judentum auch nicht. Mit Sigmund Freud waren sie "gottlose Juden" - Juden, deren Judentum nicht eindeutig in Begriffen wie Religion, Nation oder gar Rasse definiert werden konnte.

Historiker haben, wie schon die Zeitgenossen, nach Gründen dafür gesucht, warum in der Umbruchszeit zwischen 1917 und 1920 relativ viele jüdische Akteure - Leo Trotzki, Lew Kamenew und Grigori Sinowjew in St. Petersburg, Béla Kun in Budapest und Rosa Luxemburg in Berlin - führende Rollen im revolutionären Geschehen Europas einnahmen. Im Zarenreich, wo die meisten Juden lebten, wurden sie systematisch unterdrückt und konnten sich an der aktiven Politik nicht beteiligen. Viele von ihnen erblickten im Sozialismus eine Möglichkeit, ihrer eigenen sozialen Notlage zu entkommen.

In Deutschland wären sie seit der rechtlichen Gleichstellung 1870 zwar theoretisch zur politischen Mitbestimmung in der Lage gewesen, doch hatten sie nur im linksliberalen und linken Lager die Möglichkeit, voll akzeptiert zu werden. Daher waren auch die meisten jüdischen Reichstagsabgeordneten vor dem Ersten Weltkrieg Sozialdemokraten, obwohl die große Mehrheit der jüdischen Wähler für die bürgerlichen Parteien der Mitte stimmte.

Die Säkularisierung der im Judentum verankerten messianischen Traditionen und der mit den biblischen Propheten verbundene Gerechtigkeitsanspruch in Bezug auch auf andere benachteiligte Bevölkerungsschichten war ein weiterer Grund für das Engagement vieler Juden zugunsten revolutionärer Belange. Zudem bot die internationale Arbeiterbewegung die Aussicht auf eine Heimat jenseits der Nationen, von denen die Juden oft als wurzellos zurückgewiesen wurden.

Es gab auch in Berlin in dieser Phase jüdische Politiker mit Regierungsverantwortung, mit Paul Hirsch war ein Jude sogar für kurze Zeit preußischer Ministerpräsident. Doch in keiner Stadt war die Beteiligung von Juden am revolutionären Geschehen so ausgeprägt wie in München.

Juden wurden für einen kurzen historischen Moment auf die politische Bühne geschwappt

Hier waren unter den prominentesten Vertretern der Revolution und der Räterepubliken Menschen jüdischer Herkunft in großer Zahl vertreten. Dazu gehörten neben Eisner auch sein ihm stets zur Seite stehender Sekretär Felix Fechenbach und sein schon in jungen Jahren getaufter Finanzminister Edgar Jaffé, wie auch Landauers Mitstreiter in der ersten Räterepublik, Ernst Toller und Erich Mühsam, Otto Neurath und Arnold Wadler. Der führende Kopf der zweiten Räterepublik war der aus Russland stammende Kommunist Eugen Leviné. In seinem Umkreis wirkten weitere russische Kommunisten wie Towia Axelrod und Frida Rubiner, während Max Levien aufgrund seines Namens fälschlicherweise für einen Juden gehalten wurde.

Doch die andere Seite der Medaille wird oft vergessen. Genauso wie die jüdischen Revolutionäre nichts mit der offiziellen jüdischen Gemeinde zu tun haben wollten, distanzierte sich die große Mehrzahl der Mitglieder der jüdischen Gemeinde von der Revolution. Außer den Antisemiten hatte wohl kaum jemand solch starke Aversionen gegen die Beteiligung jüdischer Revolutionäre wie die Münchner Juden. Sie wussten nur allzu gut, dass sie für die Handlungen der jüdischen Revolutionäre haftbar gemacht werden würden. Wie es eine jüdische Zeitung inmitten der bayerischen Revolutionswirren ausdrückte: "Es ist die alte Geschichte, daß gerade die Männer, die sich am weitesten aus dem Judentum herausgestellt haben, stets als Kronzeugen gegen uns angeführt werden."

Teilweise befinden sich die als jüdisch wahrgenommenen Akteure in ganz offenem Konflikt untereinander. Erich Mühsam lehnte die Politik des Ministerpräsidenten Kurt Eisner als zu gemäßigt ab. Der Pazifist Ernst Toller lieferte sich während der zweiten Räterepublik heftige Auseinandersetzungen mit dem Kommunisten Eugen Leviné, der wiederum Toller, Mühsam und Landauer der völligen "Ahnungslosigkeit" bezichtigte.

Eisner kam aus dem moderaten Flügel der Sozialdemokratie und schloss sich wegen seiner langsam wachsenden Ablehnung des Krieges der linken USPD an; Landauers Weltanschauung war durch Grundprinzipien des Anarchismus geprägt; Leviné handelte im Auftrag der Kommunistischen Partei. Der politische Riss ging oftmals quer durch die Familien. Ein Cousin Ernst Tollers kämpfte 1919 als Leutnant der weißen Garde im Freikorps Epp.

Jüdische Revolutionäre machten noch lange keine jüdische Revolution. Der antisemitische Mythos einer "jüdischen Revolution" ist daher ebenso falsch wie die Schutzbehauptung der jüdischen Gemeinde, die jüdischen Revolutionäre seien alle keine Juden mehr.

Es gab keinen politischen Konsens unter den jüdischen Revolutionären, geschweige denn unter der jüdischen Gemeinschaft insgesamt. Juden wurden für einen kurzen historischen Moment auf die politische Bühne geschwappt - und dies wiederum lieferte ihren Gegnern Munition.

Am 2. Dezember 1918 hatte Landauer Buber aufgefordert, über genau diese Aspekte zu schreiben: "Lieber Buber, Sehr schönes Thema, die Revolution und die Juden. Behandeln Sie dann nur auch den führenden Anteil der Juden an dem Umsturz."

Michael Brenner ist Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Präsident des Leo Baeck Institute International. Soeben hat er das Buch "Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918 - 1923" (Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag) veröffentlicht.

© SZ vom 27.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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