Grüne Landesregierung in Baden-Württemberg:Sogar die Jugend muckt nur bei Reizthemen auf

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Begriffe wie "Kompromiss" und "Konsens" bekommen einige Grüne nur mit Ekel über die Lippen. Doch in Baden-Württemberg ist ihre Rückendeckung für Ministerpräsident Kretschmann erstaunlich. Seit sie hier als Protestpartei an die Macht gekommen sind, verändern sie das Land - und sich selbst.

Roman Deininger

Winfried Kretschmann hat in seinen 33 Jahren in der Politik schon viel gelitten an seiner Partei, an ihrer rituellen Auflehnung gegen Autoritäten, selbst wenn es die eigenen sind. Zwei Mal hat er vorübergehend hingeschmissen, entnervt von der aufmüpfigen Basis. Aber manchmal ist es auch sehr praktisch, bei den Grünen zu sein, am Samstag etwa beim Kleinen Landesparteitag in Heilbronn. Da kann der Ministerpräsident ohne Krawatte und ohne Sakko ans Rednerpult treten, ohne damit Kleidervorschriften zu verletzen.

Große Einigkeit zeigten die Grünen in Heilbronn - etwa bei der Abstimmung über die Forderung, dass Parteien im Südwesten bei Kommunalwahlen künftig gleich viele Frauen und Männer auf ihre Listen setzen müssen. Das wäre eine bundesweit einmalige Gesetzesänderung. (Foto: dpa)

Der Realo Kretschmann hatte sich immer schon der Aufgabe verschrieben, bei seinen übermütigen Parteifreunden den Sinn fürs Machbare zu schärfen. Als Alleinverursacher der grünen Regierungseuphorie im Südwesten hat die Aufgabe für ihn nun neue Dringlichkeit erhalten.

"Wir können unseren Koalitionsvertrag nur schrittweise umsetzen, wenn man acht Prozent des Haushalts streichen muss", erklärt er seinen Zuhörern das Regieren in Zeiten des Sparzwangs. "Das müsst Ihr einsehen!" Mit Einsicht sind die Grünen bislang selten aufgefallen, doch in Heilbronn bekommt Kretschmann freundlichsten Applaus. Keine Minute muss er leiden. Organisatorisch und kulturell sind die Grünen zwar noch lange keine Regierungspartei. Aber sie wollen offenbar ernsthaft eine werden.

Das Treffen in Heilbronn ist das zweite der neuen Zeitrechnung nach der triumphalen Landtagswahl im März 2011. Ein gutes Jahr sind die Grünen jetzt an der Macht. Sie haben begonnen, das Land zu verändern - und sich selbst.

Die Wahl hatten sie im Streit um Stuttgart 21 als Protestpartei gewonnen. Um 2016 vorne zu bleiben, müssen sie ein bisschen mehr Volkspartei werden, sich neue Wählergruppen erschließen und gleichzeitig der Piraten erwehren. Landeschef Chris Kühn sagt: "Es ist wie im Fußball: Eine Meisterschaft zu verteidigen ist schwerer, als sie das erste Mal zu holen." Man befinde sich in einer "Phase des Umbaus". Das Problem sei nur: "Eigentlich haben wir dafür gar keine Zeit."

Kurz vor dem Parteitag sitzt Kühn mit seiner Ko-Vorsitzenden Thekla Walker in einem Café im Stuttgarter Westen, nur ein paar Meter weg von der grünen Parteizentrale, die sich in einem Hinterhof versteckt. Hier soll die Veränderung schon ansetzen: Aus dem Studentenviertel will man bald in die Innenstadt ziehen, näher ran an Landtag und Regierungssitz. "Wir versuchen, die Kommunikation zwischen Basis und Regierung so leicht wie möglich zu machen", sagt Walker. Dafür haben sie sogar mit der strengen Trennung von Mandat und Parteiamt gebrochen: Kretschmann gehört als "beratendes Mitglied" dem Landesvorstand an. Zwei Minister durften in den Parteirat.

Und auch wenn manche Graswurzel-Grüne Begriffe wie Kompromiss und Konsens weiter nur mit Ekel über die Lippen kriegen: Die Rückendeckung für Kretschmann ist bis jetzt erstaunlich, sogar die Grüne Jugend muckt nur bei ausgewählten Reizthemen auf, zum Beispiel dem geplanten Alkoholverbot im öffentlichen Raum. Das Grummeln über die "Kreidefresser" in der Regierung ist da, aber öffentlich kaum zu hören.

Freilich könnte bereits eine überschaubare Zahl von Wählern, die sich von der neuen grünen Staatsräson verprellt fühlen, sehr weh tun: In Stuttgart muss der grüne OB-Kandidat Fritz Kuhn mitansehen, wie sich die enttäuschten Stuttgart-21-Gegner von den "grünen Verrätern" lossagen und unter anderen Fahnen sammeln.

Dass die Grünen trotz der Professionalisierung ihrer Strukturen weiter ein ganz eigenes Gesicht haben wollen, sieht man schon an den beiden Vorsitzenden: Kühn ist gerade mal 32 Jahre alt; Walker ist 42 und erst seit vier Jahren politisch aktiv. "Bei uns soll es bunt bleiben", sagt die Naturpädagogin, "wir wollen uns eine höhere Durchlässigkeit von unten nach oben bewahren". Das müssen sie auch: 2011 haben die Grünen zwar 1000 Mitglieder gewonnen, doch von den 8800, die sie nun zählen, brauchen sie jedes einzelne für die vielen Posten, die eine Regierungspartei zu besetzen hat.

Angesichts von 72.000 Christdemokraten im Land, die in vielen Kommunen den politischen und den vorpolitischen Raum beherrschen, können die Grünen nicht durchregieren. "Wir wollen uns verbreitern", sagt Kühn, "der Schlüssel zum Erfolg ist die Vertretung vor Ort". Die grüne Landkarte hat abseits der Unistädte noch viele weiße Flecken, etwa Nordbaden oder den Odenwald. Hier sollen Büros eingerichtet, anderswo Mitarbeiter einstellt werden. Dabei, sagt Walker, "bleibt es unser Anspruch, unseren Mitgliedern mehr Gelegenheit zum Mitmachen zu bieten als andere Parteien". Viele dieser Mitglieder behalten derweil ihren Anspruch, den Ministerpräsidenten in offiziellen Briefen auch weiter anreden zu dürfen, wie sie es seit 33 Jahren tun - mit "Du, Winnie".

© SZ vom 25.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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