Als sich Octavian Ursu und Sebastian Wippel die Hände reichen, ist es fast still auf dem Untermarkt in Görlitz. Dutzende Menschen stehen auf dem Straßenpflaster, ihre Gespräche sind verstummt. Sie schauen in die Richtung der beiden Männer. Wippel ist 1,90 groß und überragt Ursu. "Herzlichen Glückwunsch", sagt er, schüttelt Ursus Hand mit der Rechten, ergreift dessen Unterarm zusätzlich mit der Linken. Die Kameras der Fotografen klicken.
Die Renaissance-Fassade des Rathauses rahmt die Szene ein. Es ist der Sitz des Oberbürgermeisters und damit Symbol für den Kampf, den sich Wippel und Ursu in den zurückliegenden Wochen lieferten. Beide traten am Sonntag in einer Stichwahl für das Amt des Oberbürgermeisters gegeneinander an. Wippel für die AfD, Ursu für die CDU. Eine Art Showdown wenige Monate vor der sächsischen Landtagswahl, aus dem nun Ursu als Sieger hervorgegangen ist. Nach dem vorläufigen Endergebnis stimmten 55,2 Prozent der Wähler für ihn. 44,8 Prozent der Stimmen entfielen auf Wippel. Sein Auftauchen auf der Wahlparty von Ursu ist ein Anstandsbesuch, der ihm schwerfallen muss. Als Wippel nach wenigen Minuten gehen will, klatschen einige Unterstützer Ursus. Sie geben dem AfD-Politiker die Hand. Aus Respekt. Eine geradezu versöhnliche Geste am Ende eines Wahlkampfs, der polarisiert hat.
Niederlage für AfD:CDU-Kandidat gewinnt Bürgermeister-Wahl in Görlitz
Octavian Ursu setzt sich in der sächsischen Grenzstadt gegen den AfD-Kandidaten durch. Die AfD äußert scharfe Kritik an der politischen Konkurrenz, den Medien und am Wahlverfahren.
Wippel hatte auf einen Sieg hoffen können, besonders nachdem er im ersten Wahlgang Ende Mai 36,4 Prozent erzielte. Ursu schaffte lediglich 30,3 Prozent - eine herbe Niederlage für ihn und seine Partei. Auch weil die CDU bei der gleichzeitig stattfindenden Kommunal- und Europawahl schlecht abschnitt. Die AfD wurde hingegen stärkste Kraft. Ausgerechnet in der selbsternannten Europastadt machte sich eine Anti-Stimmung breit, die Wippel bedienen konnte.
"Richtig ist, was für Deutschland gut ist"
Der AfD-Politiker sitzt im Sächsischen Landtag. In seiner Fraktion gilt er als Experte für innere Sicherheit. Ein Thema, auf das er auch im Wahlkampf in Görlitz gesetzt hat. Die Stadt liegt mit ihren 57 000 Einwohnern in direkter Nachbarschaft zu Polen. Zwar ist die Kriminalität im Kreis auf einem neuen Tiefstand seit Ende der Grenzkontrollen im Dezember 2007 - doch Drogendelikte und Einbrüche sind ein großes Problem. Wippel, selbst Polizist, zeichnete im Wahlkampf das Bild einer Stadt in Angst. Von Vergewaltigungen war die Rede. Von Jugendlichen, die Hundebesitzer anpöbeln und auch zuschlagen. Im Zusammenhang mit den Tätern sprach der 36-Jährige von "Neueingewanderten".
Die Leitlinien seiner Politik hat er mal so zusammengefasst: "Richtig ist, was für Deutschland gut ist. Richtig ist, was für das deutsche Volk gut ist. Und was richtig ist, muss gemacht werden. Und ich werde es tun." In Görlitz machte er sich für Grenzsicherung, mehr Polizei und Videoüberwachung stark. Die AfD steckte eigenen Angaben zufolge einen höheren fünfstelligen Betrag in den Wahlkampf. Vor dem zweiten Wahlgang setzte sie auf die Unterstützung durch die Parteispitze. Alice Weidel kam nach Görlitz, um sich bei den Wahlkämpfern zu bedanken. Fotos zeigen sie mit Wippel, entspannt lächelnd. Vor wenigen Tagen folgte die Bundestagsabgeordnete Beatrix von Storch.
Der große Triumph sollte am Sonntagabend in einem Biergarten im Südwesten der Stadt gefeiert werden. Es ist 18.30 Uhr, wenige Stunden vor dem Handschlag mit Ursu. Wippels Konterfei lächelt von Plakaten, von Aufstellern und von der Motorhaube eines im Vorhof geparkten Trabbis. Ungefähr zwanzig Journalisten sind gekommen, darunter ein Reporter aus Japan. Der DJ von Ronnys Oldie-Express spielt Disco-Fox. Wippel läuft mit einem Bier in der Hand umher, macht Selfies mit seinen Unterstützern. Einer von ihnen hat eine Geschenke-Box mitgebracht. Darin: Ein großer Schlüssel aus Metall für den künftigen Rathausherrn. Auf einer Karte steht: "Du bist Gold wert."
Doch als zwei Drittel der Wahlbezirke ausgezählt sind, steht fest: Wippel wird nicht der erste Oberbürgermeister der AfD in Deutschland. Der Kandidat läuft am Rande des Biergartens auf und ab. Er weiß nicht wohin mit den Händen. Wenn er die Finger im Gürtel einhakt, sieht er aus wie ein Sheriff. Wippel faltet die Hände vor dem Oberkörper. So steht er dann auch beim Live-Interview mit dem MDR vor der Kamera.
Anschließend feiern ihn seine Anhänger mit "Wippel"-Rufen und Beifall. Der AfD-Politiker bedankt sich in einer Ansprache bei seinen Unterstützern, spricht von einem "grandiosen Ergebnis" angesichts von Gerüchten, die von der Lokalpresse und politischen Gegnern gestreut worden seien. "Stellen wir uns mal vor, wir hätten normale Zeiten. Dann hätten wir diese Wahl heute richtig gewonnen."
Den Sieg habe die CDU nur erringen können, weil sie mit wirklich jedem zusammengearbeitet habe. "Auch Linksextremisten." Tino Chrupalla, AfD-Bundestagsabgeordneter, legt nach: "Wenn sich das alte Parteienkonglomerat zusammenschließen muss, um einen AfD-Kandidaten zu verhindern, zeigt das, wie demokratieverlassen dieses Land ist."
Tatsächlich konnte der 51-jährige Octavian Ursu die Oberbürgermeisterwahl nur gewinnen, weil sich ein breites Bündnis aus Parteien, Vereinen und Initiativen hinter den gebürtigen Rumänen stellte. Viele hatten ursprünglich die Kandidatin der Grünen unterstützt, die nach dem ersten Wahlgang auf eine weitere Kandidatur verzichtete. Zugunsten Ursus. Was dessen Unterstützer schließlich einte, war das Ziel, Wippel als Oberbürgermeister zu verhindern und das Image von Görlitz als weltoffene Europastadt zu verteidigen.
Auch CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer würdigte die Wahl Ursus am späten Sonntagabend auf Twitter als "Sieg eines breiten Bündnisses, für das ich dankbar bin", nachdem sie zuvor erst mal nur geschrieben hatte, dass die CDU "die bürgerliche Kraft gegen die AfD" sei.
Ursu präsentierte sich im Wahlkampf als überparteilicher Kandidat. Hatte er zunächst mit seinen guten Kontakten zum CDU-Politiker und Ministerpräsident Michael Kretschmer geworben, ließ er vor der finalen Entscheidung seine Ämter als CDU-Stadt- und Kreisvorsitz ruhen. Jetzt, nach der Wahl, will er sie ganz aufgeben. Ein Zugeständnis an jene, die die CDU als politischen Gegner sehen. Einige von ihnen sind am Sonntagabend auch zur Wahlparty von Octavian Ursu ins Stadtzentrum gekommen. Die Erleichterung über das Ergebnis hat sie hierhergetrieben.
"Hauptsache gewonnen!"
Jana Lübeck stellt sich neben Octavian Ursu. Sie möchte, dass ein Freund ein Foto von ihnen macht. Lübeck trägt das T-Shirt einer Punk-Band. "Attack the Killercherries" steht darauf. Ursu trägt Anzug und Krawatte. Beide lächeln. Klick. "Jetzt brauche ich erst mal was zu trinken", sagt die 34-Jährige und nimmt einen Schluck aus ihrem Bierglas. Lübeck hatte im ersten Wahlgang für die Linke als Oberbürgermeisterin kandidiert. Künftig wird sie für ihre Partei im neuen Stadtrat sitzen. "Ich habe Ursu gewählt", sagt sie. Schwergefallen sei ihr das nicht. Es gebe durchaus Parallelen - etwa beim Thema Weltoffenheit, bessere Mitbestimmung durch die Bevölkerung sowie Gleichberechtigung.
Bei Ursus Ansichten zum Thema Sicherheit sieht es anders aus. "Das fuchst mich natürlich als Linke", sagt sie. Der CDU-Politiker hatte recht früh im Wahlkampf Videoüberwachung an der Altstadtbrücke versprochen. Die Kameras sollen Ende Juli geliefert werden. Darüber will Lübeck erst mal nicht nachdenken. Für den Moment gilt: "Wir Demokraten müssen zusammenhalten." Eine andere Besucherin der Wahlparty drückt es so aus: "Hauptsache gewonnen!"
Doch die Freude über Ursus Sieg dürfte nur kurz währen. Bei der Oberbürgermeisterwahl stand nicht nur das Image der Stadt auf dem Spiel. Görlitz ist die Heimat von Ministerpräsident Michael Kretschmer. Bereits zur Bundestagswahl 2017 holte die AfD im Wahlkreis Görlitz das Direktmandat. Sebastian Wippel erlitt nun zwar eine Niederlage. Seine Partei konnte jedoch deutlich machen, dass sie in der Region eine Stammwählerschaft aufgebaut hat, die zum Problem für die CDU geworden ist. Der bei den Bürgern recht beliebte Wippel könnte zur Landtagswahl als Direktkandidat der AfD gegen Kretschmer antreten. Und ihm und dessen Partei eine Niederlage zufügen, die schwerer wiegt als ein Sieg bei den Oberbürgermeisterwahlen.