Frankreich:"Nie mehr Engelmacher, Kleiderbügel, Stricknadeln, Tote"

Lesezeit: 3 min

Frankreichs Senatorinnen und Senatoren vor der Abstimmung am Mittwoch. (Foto: Stephane de Sakutin/AFP)

Frankreichs Parlament will den Schwangerschaftsabbruch als "garantierte Freiheit" in der Verfassung verankern. Für die Rechte von Frauen ist das eine Weltpremiere.

Von Oliver Meiler, Paris

In Frankreich reden sie von einem historischen Moment, von einer "großen Lektion für die Welt". Der Senat, die kleine und konservative Kammer des französischen Parlaments, hat am Mittwochabend mit einer unerwartet klaren Mehrheit dafür gestimmt, dass der Schwangerschaftsabbruch als "garantierte Freiheit" in die Verfassung der Republik aufgenommen wird.

267 Ja- gegen nur 50 Nein-Stimmen bei 22 Enthaltungen. Die Überraschung über dieses wuchtige Votum war so groß, dass ein schöner Teil der Senatorinnen und Senatoren im Palais du Luxembourg von den Sitzen aufsprang und laut applaudierte - sich selbst und all jenen rechten bis reaktionären Kollegen, die sich in den vergangenen Wochen überzeugen ließen von der Vorlage. In der Nationalversammlung war der Zuspruch noch deutlicher gewesen.

Eine Etappe fehlt noch, eine letzte Abstimmung, sie wird nun zur Formalie. Präsident Emmanuel Macron lädt die Parlamentarier beider Kammern am kommenden Montag ins Schloss Versailles, damit sie dort als Kongress über die Verfassungsänderung befinden: Eine Drei-Fünftel-Mehrheit ist nötig, also mindestens 555 von insgesamt 925. Summiert man die Ja-Stimmen beider Kammern, kommen 760 Stimmen von Abgeordneten und Senatoren zusammen.

Macron, der die umkämpfte Reform nach zwei gescheiterten Versuchen fest versprochen hatte, sagte nach der Abstimmung im Senat, diese Freiheit der Frauen werde nun "irreversibel".

Ist Frankreich damit die Avantgarde für die Welt?

Nun, ganz stimmt das natürlich nicht, Verfassungen lassen sich ändern, wie er gerade beweist. Aber leicht ist das nicht. Es ist dies Frankreichs erste Revision am Grundgesetz seit sechzehn Jahren. Außerdem ist die Meinung der Französinnen und Franzosen in dieser Sache sehr klar. In einer großen Umfrage von 2022 sprachen sich 86 Prozent der Befragten dafür aus, dass das Recht auf Abtreibung, das in Frankreich als "Loi Veil" bekannt ist, benannt nach der damaligen Gesundheitsministerin Simone Veil, auch im wichtigsten Gesetzestext festgeschrieben würde. Eine Weltpremiere.

Französische Feministinnen, die viele Jahre lang dafür gekämpft haben, sehen in Frankreich deshalb jetzt eine Art Avantgarde, eine Vorlage für mögliche Nachahmer - in Zeiten, da dieses Recht auch im Westen vielerorts infrage gestellt wird, mehr oder weniger massiv. In den USA etwa, in Ungarn, in Polen, in Italien, überall dort, wo rechts-traditionalistische Kräfte stark sind oder regieren.

Ein Teil der französischen Konservativen warf den Förderern vor, diese würden eine Gefahr heraufbeschwören, die es in Frankreich gar nicht gebe. Vor allem der rechte Flügel der bürgerlichen Républicains argumentierte so, mehr noch als die Lepenisten vom extrem rechten Rassemblement National, die früher die Vorhut der Abtreibungsgegner gebildet hatten. Es werde da nur Symbolpolitik gemacht, sagten manche Republikaner, völlig unnötig.

Der Fernsehsender CNews macht Stimmung - und muss sich entschuldigen

Aber ist das auch wahr? Die Zahl der Gegner der IVG, wie die Franzosen den Schwangerschaftsabbruch nennen, Akronym für "interruption volontaire de grossesse", mag nicht sonderlich groß sein. Doch sie haben mächtige Fürsprecher, einen vor allem: Vincent Bolloré, den erzkatholischen bretonischen Großindustriellen und Medienunternehmer. Viel Aufregung löste vor ein paar Tagen eine Sendung auf Bollorés Nachrichtensender CNews aus.

Der Moderator des Programms "En quête d'esprit" zeigte eine Grafik, auf der die angeblich drei größten "Todesursachen auf der Welt" aufgeführt waren. An erster Stelle stand da: "Abtreibung: 73 Millionen pro Jahr". Dann kam "Krebs" mit zehn Millionen und "Tabak" mit 6,2 Millionen. Bei der französischen Aufsichtsbehörde für audiovisuelle und digitale Kommunikation gingen Dutzende Anzeigen gegen den Sender ein. CNews musste sich entschuldigen. Die Empörung war auch deshalb groß, weil auf der Welt nach wie vor Zehntausende Frauen bei heimlichen Abtreibungen sterben.

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Vielleicht half der Fall CNews dem Lager der Befürworter, und vielleicht war er sogar mitverantwortlich für das überraschend klare Ergebnis im Senat: Da war er, der plastische Nachweis für die Gefahr, für diese ständige Zerbrechlichkeit von Rechten und Freiheiten, gerade jener der Frauen.

Die grüne Senatorin Mélanie Vogel, die monatelang lobbyiert hatte im Parlament und dabei viele Konservative überreden konnte, wandte sich nach der Abstimmung gerührt an die Kollegen: "Nie mehr Engelmacher, Kleiderbügel, Stricknadeln, Tote. Sagen wir unseren Töchtern, unseren Nichten, unseren Enkelinnen und deren Freundinnen: Ihr seid jetzt und für immer frei."

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