Nach tödlicher Polizeigewalt:Frankreich erlebt die vierte Chaos-Nacht in Folge

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Eine Gruppe von Polizisten patrouilliert während der Ausschreitungen in Nanterre. (Foto: Lewis Joly/dpa)

Kurz vor der Beerdigung des getöteten 17-Jährigen gibt es mehr als 1300 Festnahmen, die Unruhen greifen auch auf Belgien und französische Überseegebiete über. Fußballstar Mbappé meldet sich zu Wort, Polizeigewerkschaften sprechen von "Krieg".

Auch in der vierten Nacht nach dem Tod des 17-jährigen Nahel durch Polizeigewalt ist es in ganz Frankreich zu schweren Krawallen gekommen. Bis zum Morgen sind 1311 Menschen festgenommen worden, davon allein 406 in Paris. Das teilte das Innenministerium am Samstag in einem vorläufigen Bericht mit. 79 Polizisten seien verletzt worden. Die Unruhen griffen nicht nur auf die belgische Hauptstadt Brüssel über, sondern auch auf französische Überseegebiete in der Karibik. An diesem Samstag soll der am Dienstag bei einer Polizeikontrolle getötete 17-Jährige in seinem Heimatort Nanterre beerdigt werden.

Massive Polizeipräsenz und behördlich angeordnete Einschränkungen des öffentlichen Lebens konnten die erneuten Ausschreitungen in der Nacht zu Samstag in ganz Frankreich nicht verhindern. Innenminister Gérald Darmanin hatte am Freitagabend angekündigt, dass 45 000 Polizistinnen und Polizisten in der Nacht für Ordnung sorgen sollten. Darunter seien auch Spezialkräfte.

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In Großstädten wie Lyon, Marseille oder Straßburg waren Demonstrationen und Veranstaltungen verboten worden, wie der Sender Franceinfo berichtete. Trotzdem gab es Plünderungen, Sachbeschädigungen und gewalttätige Zusammenstöße. Zu besonders heftigen Auseinandersetzungen kam es Medienberichten zufolge in Marseille und Lyon. In Marseille wurde unter anderem nach einem Brandanschlag ein Supermarkt geplündert.

Darmanin teilte mit, die Gewalt sei insgesamt trotzdem von "weitaus geringerer Intensität" gewesen. Er sagte: "Die Republik wird gewinnen, nicht die Randalierer." Er sei nicht der Ansicht, dass der Ausnahmezustand verhängt werden müsse. In der Nacht auf Freitag waren mehr als 900 Menschen festgenommen worden. 40 000 Polizisten waren im Einsatz. Nach Angaben des Innenministeriums wurden rund 250 Polizisten verletzt.

Zudem seien 1350 Autos ausgebrannt. Insgesamt habe es 2560 Brandherde auf öffentlichen Straßen gegeben, teilte das Innenministerium am Samstag mit. Außerdem seien 31 Polizeiwachen angegriffen worden. In der vorigen Nacht waren den Behörden zufolge noch 1900 Autos ausgebrannt.

Ausschreitungen auch in französischen Überseegebieten

Im Zusammenhang mit den Unruhen in Frankreich kam es auch in einigen französischen Überseegebieten zu Ausschreitungen. In Cayenne, der Hauptstadt des südamerikanischen Französisch-Guayana, wurde ein Mann in der Nacht zum Freitag (Ortszeit) durch einen Querschläger getötet, wie die örtlichen Behörden mitteilten. Nach Medienberichten handelte es sich um einen Mitarbeiter der Lokalverwaltung. Der Präfekt Thierry Queffelec verbot nach offiziellen Angaben daraufhin am Freitag für die folgenden zwei Nächte das Tragen von Waffen und bis Montag den Transport brennbarer Stoffe.

In Colombes in der Nähe von Paris blockieren Protestierende eine Straße mit Mülltonnen. (Foto: Lewis Joly/dpa)

Auch im karibischen Überseegebiet Martinique kam es nach einem Bericht des regionalen Portals France-Antilles in der Nacht zum Freitag zu Gewalt. Etwa 20 bis 30 Vermummte warfen demnach in der Hauptstadt Fort-de-France mit Steinen auf Polizisten. An mehreren Orten seien Mülltonnen angezündet worden.

Auch in der belgischen Hauptstadt Brüssel kamen am Freitagnachmittag als Reaktion auf den Tod des 17-Jährigen erneut Jugendliche zusammen. Einer Polizeisprecherin zufolge versammelten sie sich nach einem Aufruf in sozialen Netzwerken an verschiedenen Orten. Zwischenzeitlich seien rund 50 Menschen präventiv festgenommen worden, hieß es. Bereits am Donnerstagabend war es in Brüssel zu Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und Ordnungskräften gekommen.

Fußballspieler Mbappé warnt vor Gewalt

Derweil kommen von zwei französischen Polizeigewerkschaften aggressive Töne in Richtung der Protestierenden. In einer gemeinsamen Erklärung schrieben die Gewerkschaften Alliance Police Nationale und Unsa Police: "Jetzt ist nicht die Zeit für den Arbeitskampf, sondern für den Kampf gegen diese 'Schädlinge'". Man sei "im Krieg", hieß es weiter. Die Gewerkschaften vertreten etwa die Hälfte der französischen Polizisten.

Der linke Politiker Jean-Luc Mélenchon reagierte bei Twitter empört. Polizeigewerkschaften, die zum Bürgerkrieg aufriefen, sollten "lernen, ruhig zu sein", schrieb er. Die Gewerkschaften rechtfertigten sich daraufhin für ihre Wortwahl. Man habe es nicht bloß mit Gewalt, sondern mit einer "Stadtguerilla" zu tun. Der Krieg sei etwas, womit die Beamten täglich konfrontiert seien.

Der französische Fußballstar Kylian Mbappé warnte indes vor Gewalt. "Seit diesem tragischen Ereignis sind wir Zeuge des Ausdrucks der Wut der Bevölkerung, deren Inhalt wir verstehen, deren Form wir jedoch nicht gutheißen können", heißt es in dem Statement, das er am Freitagabend zusammen mit anderen Nationalspielern veröffentlichte.

Viele Spieler kämen selbst aus den Arbeitervierteln und könnten den Schmerz und die Traurigkeit nachvollziehen. Aber Gewalt löse keine Probleme. "Die Zeit der Gewalt muss enden, um der Zeit der Trauer, des Dialogs und des Wiederaufbaus Platz zu machen", erklärte Mbappé.

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