Flüchtlingspakt:Die große Verschiebung der Flüchtlinge beginnt

Lesezeit: 4 min

  • Von Montag an sollen Flüchtlinge von Griechenland zurück in die Türkei gebracht werden.
  • Die EU-Grenzschutzbehörde Frontex verstärkt ihre Präsenz in der Ägäis.
  • Viele Menschen haben Angst vor den Überführungen. Aus den Auffanglagern sind Hunderte geflohen, die Asylanträge in Griechenland nehmen zu.
  • Im türkischen Dikili protestieren Anwohner gegen die Ankunft der Migranten.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Jetzt ist er gekommen, der Tag, der Linderung in der Flüchtlingskrise bringen soll, wenn nicht gar die Lösung. Der Flüchtlingspakt zwischen der Europäischen Union und der Türkei greift, die große Verschiebung von Flüchtlingen soll beginnen. Von einem "Mechanismus" sprechen die Politiker in Brüssel, Berlin und Ankara. Sie reden wie Techniker, die an diesem Montag eine hochkomplizierte Maschine mit wundersamer Wirkung zum Laufen bringen müssen. Dieser Montag steckt voller Unsicherheiten, und vor allem auch voller Angst. Weil es am Ende doch um Menschen geht. Monatelang kannten die Flüchtlinge nur eine Richtung. Nur raus aus dem Bürgerkriegsland Syrien. Nach Europa. Koste diese beschwerliche Reise, die meist über die Türkei führte, was sie wolle - wenn nicht sogar das eigene Leben.

An manchen Tagen haben Dutzende Schlauchboote vor Sonnenaufgang an der türkischen Küste in Richtung griechischer Inseln abgelegt, vollgepfropft mit Flüchtlingen und Hoffnungen. Nicht alle Boote kamen an. Die Ägäis ist in diesen Monaten zu einem gigantischen Friedhof geworden.

Und nun sollen am Montag zwei Schiffe gegen den Strom fahren. Von Europa zurück in die Türkei. Der Katamaran Nazlı Jale und die Lesbos sollen um 10 Uhr vom Hafen in Mitilini ablegen. Das eine Schiff hat Platz für 200, das andere für 100 Personen. Das ist nichts im Vergleich zu den großen Passagierfähren, die sonst von Lesbos aus das griechische Festland angesteuert hatten und täglich viele Hundert Flüchtlinge ihrem Ziel ein Stück näher brachten. Für jeden Flüchtling auch soll ein Mitarbeiter der EU-Grenzschutzagentur Frontex mitreisen - so viel Aufmerksamkeit wird den Verzweifelten ausgerechnet dann zuteil, wenn es darum geht, sie wieder loszuwerden. Der Plan der griechischen Küstenwache und der EU-Grenzschutzagentur sieht vor, dass bis Mittwoch zunächst rund 750 Asylsuchende, die auf die Ägäis-Inseln gekommen sind, in die Türkei zurückgebracht werden.

"Ich werde mich ins Meer werfen", sagt ein junger Migrant im griechischen Fernsehen

Das soll aber nur der Anfang sein. Der im März vereinbarte Flüchtlingspakt mit der Europäischen Union hat zum Ziel, dass die Türkei alle seit dem 20. März in Griechenland angekommenen Migranten zurücknimmt. Für jeden Syrer darunter können die Türken auch einen syrischen Flüchtling in die EU schicken, zunächst bis zu einer Zahl von 72 000 - es gibt mal wieder eine Obergrenze.

Seit sich unter den Flüchtlingen auf den Inseln herumspricht, dass ihre Zeit in Europa nur von kurzer Dauer sein wird, geht dort die Angst um, wieder in die Türkei abgeschoben zu werden. In der Nacht zu Freitag kam es bereits auf der Insel Chios zu schweren Ausschreitungen im Auffanglager. Seither sind mehr als die Hälfte der Flüchtlinge aus der Anlage geflohen. 850 sammelten sich im Inselhafen und weigern sich, zurückgebracht zu werden. "Ich werde mich ins Meer werfen", sagte ein junger Migrant dem griechischen Fernsehen. Viele protestierten gegen die geplanten Rückführungen, sie haben andere Ziele: "Athen, Athen" und "Freiheit, Freiheit", rufen sie. Gerade solche Bilder sollte es nicht geben. Auf Lesbos rüsten der griechische Staat und seine europäischen Helfer auf. Übers Wochenende verstärkte Frontex sein Personal auf der Insel. Zahlreiche Hotelzimmer seien kurzfristig reserviert worden, heißt es.

Es wird schwierig genug, die Abschiebekandidaten in den nächsten Tagen aus der Menge der Flüchtlinge herauszuholen und für den Abtransport vorzubereiten. Der Hotspot Moria - vor dem Abkommen ein Registrierzentrum samt Notunterkunft, ist zur Abschiebe-Anstalt geworden.

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Flüchtlinge, die von der Türkei aus nach Griechenland reisen, sollen wieder dorthin zurück gebracht werden. Dafür erhält das Land Geld von der EU. Außerdem hat sich die EU verpflichtet, für jeden Flüchtling, der in die Türkei abgeschoben wird, einen syrischen Flüchtling aufzunehmen. Wird die Abmachung Erfolg haben?

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Unter den ersten Kandidaten für die Abschiebung sollen vor allen Pakistaner sein, Afghanen und Marokkaner. Für Syrer und unbegleitete, minderjährige Kinder gibt es - so sieht es am Sonntag aus - wohl noch eine Art Schonfrist. Und plötzlich wollen Flüchtlinge auch in Griechenland bleiben. Die meisten von ihnen hatten bisher darauf verzichtet, in diesem Land Asyl zu beantragen. Es hat sich bis zu den Migranten herumgesprochen, dass Griechenland selbst ein Krisenstaat ist, genug mit sich selbst beschäftigt. Seit ein paar Tagen steigt die Zahl der Asylanträge rasant - 2000 sollen es allein auf Lesbos derzeit sein. Jeder Antrag verspricht zumindest Aufschub - er muss geprüft werden, egal wie schlecht die Chancen stehen. In zwei Wochen wollen die Behörden entschieden haben.

Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) haben Zweifel, dass das in so kurzer Zeit möglich ist. Überhaupt glaubt Boris Cheshirkov, UNHCR-Vertreter auf Lesbos, dass das ganze Verfahren übereilt startet. Eigentlich ist niemand wirklich vorbereitet. Vor dem Start verfügt Frontex nicht einmal über die Hälfte der erforderlichen Polizisten. Die EU-Mitgliedstaaten haben nur einen Teil des angeforderten Personals entsandt. Das griechische Parlament hat im Eilverfahren am Freitag erst die nötigen Gesetze beschlossen.

Aber die Griechen wollen auch keine Zeit verlieren. 50 000 Flüchtlinge sind im Land, von denen Tausende schlecht oder gar nicht versorgt werden. Auf türkischer Seite stehen am Wochenende noch nicht einmal die Empfangszentren, wenn man sie denn so nennen will. In der Hafenstadt Çeşme soll ein solches Camp entstehen. Betonpfeiler wurden aufgestellt - als Erstes werden wieder Zäune errichtet.

Auf türkischer Seite stehen noch keine Empfangszentren, nur die Zäune werden errichtet

Willkommen sind die Flüchtlinge in der Türkei nicht. In der Hafenstadt Dikili sind am Wochenende die ersten Bewohner auf die Straße gegangen. Unter dem Namen "Mein Dikili" haben sich Bürger und örtliche Initiativen zusammengeschlossen. Der Bürgermeister der Stadt nannte es "untragbar", weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Die Plätze in Schulen und Krankenhäuser reichten nur für die eigene Bevölkerung. Die Türkei hat nach eigenen Angaben schon knapp drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Bis jetzt geschah das weitgehend ohne öffentliche Proteste - die nächsten Wochen werden zeigen, ob die Stimmung kippt. Die Politik der offenen Grenze zu Syrien hat die türkische Regierung schon aufgegeben. Zehntausende Flüchtlinge werden von den Türken nur noch jenseits der Grenze versorgt. Vergangene Woche meldete Amnesty International, dass die Türken Syrer systematisch ins Bürgerkriegsland abschieben würden. Die Regierung bestreitet das. Der Flüchtlingsdeal läuft aber an, ohne dass solche Anschuldigungen aufgeklärt wurden.

Für etwa 40 Syrer dürfte an diesem Montag der größte Wunsch in Erfüllung gehen. Ihre Namen stehen auf der Liste jener Asylsuchenden, die dem neuen Mechanismus folgend legal in die EU einreisen und nach Deutschland kommen sollen. Sie sollen mit dem Flugzeug in Hannover landen und im niedersächsischen Friedland leben. Ihnen bleibt die lebensgefährliche Reise übers Mittelmeer erspart. Sie haben es ans Ziel geschafft.

© SZ vom 04.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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