Nebel liegt am Freitagvormittag über der Straße von Gibraltar. Die trutzige Festung über Ceuta, der seit fünf Jahrhunderten zu Spanien gehörenden Handelsstadt in Nordafrika, ist in Wolken gehüllt. Die Sicht beträgt nur wenige Hundert Meter. Eigentlich wären dies ideale Voraussetzungen für die Subsaharianos, die Afrikaner aus den Ländern südlich der Sahara, die mit kleinen Booten von Marokko aus die südspanischen Atlantikstrände nordwestlich von Tarifa erreichen wollen. Weiter östlich ist die Küste zu steil zum Anlegen, das wissen sie. Bei klarer Sicht ist von Ceuta aus der Affenfelsen von Gibraltar gut zu sehen. Es sind ganze 21 Kilometer Luftlinie.
"Das Wetter ist tückisch", sagt Adolfo Serrano, Chef der Leitstelle der Seerettung in Tarifa, der südlichsten Stadt Spaniens. Denn es herrscht in diesen Tagen Levante, ein heftiger und heißer Wind von Süden, der das Meer aufwühlt. Hinzu kommt die Strömung vom Mittelmeer in den Atlantik. "Im Nebel verliert hier jeder, der sich nicht mit dem Meer auskennt, leicht die Orientierung", sagt Serrano. Hinzu kommt, dass die Menschen in den kleinen Booten in Gefahr geraten, von großen Schiffen gerammt zu werden. Die Straße von Gibraltar ist eine der am dichtesten befahrenen Seewege der Erde. Bei Nebel können auch die Patrouillenflugzeuge keine Boote ausmachen, die in Seenot geraten sind.
Die Opposition wollte den "Angriff auf die Grenze" für sich nutzen
Wegen der hohen Wellen in dem Gebiet, in dem die Mittelmeerströmung auf den Atlantik trifft, gilt Tarifa als Surferparadies. Doch in diesen Tagen bläst der Levante so stark, dass sich kaum jemand auf das Meer hinaustraut. Der breite Strand ist menschenleer. Wegen des Levante hat die "afrikanische Welle", wie die spanische Presse es nennt, jetzt erst einmal nachgelassen.
Doch der Juli war auch für erfahrene Retter extrem. "Das habe ich noch nie erlebt", sagt Serrano, der hier seit mehr als zwei Jahrzehnten im Einsatz ist. Täglich stachen Dutzende kleine Boote an den marokkanischen Küstenorten um Tanger in See. An manchen Tagen retteten die spanische Küstenwache oder Handelsschiffe mehr als 500 Menschen vor dem Ertrinken. Von Januar bis Ende Juli sind etwa 22 000 "Personen beim illegalen Grenzübertritt", wie es amtlich heißt, registriert worden. Das sind mehr Menschen als im gesamten Jahr 2017. Einem Teil war der "Sprung über den Zaun" gelungen, die Überwindung der sechs Meter hohen Grenzanlagen um Ceuta und Melilla, die 300 Kilometer weiter östlich gelegene zweite spanische Exklave.
Zwei spektakuläre Fälle haben Schlagzeilen gemacht und aufregende Fernsehbilder produziert: Ein großes Holzboot fährt, von Schiffen der Küstenwache verfolgt, unweit des berühmten Leuchtturms von Trafalgar etwa 45 Kilometer nordwestlich von Tarifa direkt auf den Strand. Etwa 60 junge Männer springen aus dem Boot und laufen schnell in das angrenzende Wäldchen. Dass sie sich sofort abgesetzt haben und nicht registrieren lassen wollten, ist für die Presse ein Beleg, dass es sich nicht um politisch Verfolgte handelt.
Noch größere Emotionen löste der "Angriff auf die Grenze" in Ceuta am letzten Donnerstag im Juli aus; der 24 Kilometer lange Dreifachzaun ist am oberen Ende mit scharfen Klingen bewehrt. Etwa tausend junge Afrikaner haben an einer Ecke, die nicht von den Überwachungskameras erfasst ist, versucht, über die Zäune zu klettern, ausgerüstet mit Steigeisen und Holzbrettern, die über die Klingen gelegt werden sollten. Die Aktion war gut vorbereitet: Als Grenzschützer eintrafen, ging auf sie ein Hagel aus Molotowcocktails und Steinen nieder. Auch hatten mehrere der jungen Afrikaner Flammenwerfer gebastelt. 600 von ihnen gelang es, auf der spanischen Seite abzuspringen, anschließend führten sie Freudentänze auf. Mehr als 100 mussten allerdings mit Schnittwunden in Krankenhäusern behandelt werden.
In den folgenden Tagen wurde Ceuta zum beliebten Ziel von Oppositionspolitikern, die bemüht sind, die neue Regierung in der Flüchtlingsfrage schlecht aussehen zu lassen. Erst kam Albert Rivera, der junge, alerte Chef der rechtsliberalen Bürgerpartei (Ciudadanos), und lobte die Grenztruppe für ihren Einsatz bei der Verteidigung des Vaterlands. Unmittelbar darauf folgte Pablo Casado, der ebenfalls junge und alerte neue Chef der konservativen Volkspartei (PP). Er attackierte den sozialistischen Premierminister in Madrid, Pedro Sánchez: "Das ist das Ergebnis des Gutmenschentums." Sánchez hatte eine "humane Flüchtlingspolitik" versprochen. Als Beleg für den neuen Kurs hatte Madrid im Juni dem Seerettungsschiff Aquarius erlaubt, 600 afrikanische Migranten nach Valencia zu bringen, nachdem das Boot zuvor keine Genehmigung für die Häfen Italiens und Maltas bekommen hatte. Zudem kündigte Innenminister Fernando Grande-Marlaska an: "Die Klingen an den Zäunen um Ceuta und Melilla werden abgebaut."
"Sie werden unglücklich, sie sind in der Sackgasse."
Casado erklärte dazu: "Sánchez und Grande-Marlaska haben für Millionen Afrikaner eine Einladung nach Spanien ausgesprochen." Die beiden Lokalzeitungen jubelten: El Faro berichtete auf den ersten fünf Seiten über den Besuch Casados und druckte dabei elf Fotos ab, die ihn am Grenzzaun und im Gespräch mit Grenzschützern zeigen. Das Konkurrenzblatt El Pueblo de Ceuta brachte auf acht Seiten sogar 13 Casado-Fotos unter.
Im Rathaus von Ceuta schaltet und waltet seit anderthalb Jahrzehnten die PP mit absoluter Mehrheit. Auch Algeciras, der große Containerhafen auf der anderen Seite der Meerenge, ist in den Händen der PP. Dort schlägt Oberbürgermeister José Ignacio Landaluce Alarm: "Wenn wir nicht aufpassen, wird unsere Stadt das neue Lampedusa." Die italienische Insel vor der libyschen Küste war in den vergangenen beiden Jahren wichtigster Anlaufpunkt der Migranten aus Afrika. Landaluce ist gelernter Chirurg, er bezeichnet sich als Humanist und sagt: "Wer nehmen jeden auf, der wirklich unsere Hilfe braucht!"
Allerdings herrscht unter den großen Parteien in Spanien, von der linksalternativen Gruppierung Podemos abgesehen, Einigkeit darüber, dass es sich bei der überwältigenden Mehrheit der jungen Afrikaner, die über die "Maghreb-Route" kommen, nicht um Menschen in Not handelt. Die Experten der Caritas, die sich um Ankömmlinge kümmern, bestätigen dies. In Ceuta sagt Schwester Teresa, seit drei Jahrzehnten für Hilfesuchende im Einsatz, unverblümt: "Die meisten von ihnen würden glücklicher, wenn sie zu Hause blieben." Die Statistiken der Einwanderungsbehörde belegen: Fast alle der neuen Migranten kommen aus der Mittelschicht, sie träumen von Wohlstand, manche von Karrieren als Musiker oder Fußballer. Sie verehren Kylian Mbappé und Paul Pogba, Stars der französischen Fußballweltmeister, deren Eltern einst aus Afrika eingewandert sind. "Fast alle erleben in Europa einen krassen sozialen Abstieg", sagt Schwester Teresa. "Sie werden unglücklich, sie sind in der Sackgasse."
Erste Bekanntschaft mit Europa machen die meisten von ihnen in Algeciras, wohin sie mit der Fähre gebracht werden. Die 120 000 Einwohner zählende und von hoher Arbeitslosigkeit geplagte Stadt rahmen eine Raffinerie und eine Phalanx aus hellblau gestrichenen turmhohen Hafenkränen ein. Dort eröffnete am Freitag ein neues Aufnahmezentrum - eine Mehrzweckhalle, in deren Räumen 600 Feldbetten Platz finden. Das Rote Kreuz und das Militär haben Feldküchen aufgestellt. Nur ein Bruchteil der Migranten hat die Chance, als Flüchtling anerkannt zu werden.
Von all dem ahnen die jungen Afrikaner noch nichts, die morgens gruppenweise, munter plaudernd, vom überfüllten Aufnahmezentrum auf einer Anhöhe am Stadtrand ins Zentrum von Ceuta ziehen. Sie dürfen sich in der Stadt frei bewegen. Dutzende von ihnen versuchen, ein paar Euro zu verdienen: Sie weisen Autos in Parklücken ein, helfen beim Verstauen der Einkäufe auf den Parkplätzen der Supermärkte. Sie halten nach Herkunftsland zusammen, aber auch nach Religion - Christen und Muslime bleiben unter sich. Die Straßen und Supermärkte haben sie nach den Heimatländern unter sich aufgeteilt.
Nach der ersten ärztlichen Untersuchung bekommen sie einen Ausweis der spanischen Sozialversicherung. Er enthält einen GPS-Chip, über den ihr Aufenthaltsort festgestellt werden kann. "Probleme mit ihnen gibt es bei uns nicht", sagt der diensthabende Offizier der Polizeikommandantur gegenüber dem Hafen. Im Aufnahmezentrum bekommen sie eine klare Botschaft: "Wer Unfrieden stiftet, wird sofort abgeschoben."
Die beliebteste Tätigkeit am Computer der Caritas: das Facebook-Profil aktualisieren
In der Tat beugen sich die Afrikaner schnell den ungeschriebenen Regeln der Stadt: In die Diskotheken und Bars kommen sie nicht, und der elegante Südstrand mit den Clubs ist für sie tabu. Hingegen können sie am Nordstrand hinter der großen Entsalzungsanlage, die das Trinkwasser für die Stadt aufbereitet, unbehelligt baden. Dort in der Nähe befindet sich die Sidi-Sebta-Moschee, am Freitagsgebet nehmen Dutzende junge Afrikaner teil. Doch die islamische Gemeinde von Ceuta kümmere sich nicht um sie, beklagen sich zwei Männer aus Senegal, die darauf bestehen, namentlich nicht in der Zeitung genannt zu werden. "Es ist so, als wüssten sie nicht, dass es auch schwarze Muslime gibt", sagt einer der beiden Männer.
Mehr als die Hälfte der Einwohner Ceutas sind Muslime. Empört erzählen mehrere der jungen Männer von ihren Erfahrungen auf der Durchreise in Marokko: "Die Polizei geht rüde gegen uns vor." In Ceuta dagegen seien manche Polizisten sogar freundlich. Die jungen Männer dürfen auch kostenlos an den Kursen der städtischen Sprachschule teilnehmen, doch nur wenige nutzen die Angebote. Im Haus der Caritas darf jeder gegen Vorlage des Ausweises der Sozialversicherung eine Stunde pro Woche an den Computer. Beliebteste Tätigkeit: das Facebook-Profil aktualisieren.
Ruhig ist es dieser Tage in Ceuta, genau wie in Algeciras und in Tarifa auf der anderen Seite der Straße von Gibraltar. Doch wenn der Levante in ein paar Tagen abflaut, wenn die See sich beruhigt, rechnet man dort mit der nächsten "afrikanischen Welle". Die spanische Presse berichtet, dass Tausende Subsaharianos in den Wäldern um Ceuta darauf warten.