Peter Fahlbusch hat einen ganz speziellen Film mitgebracht zur Tagung. Unten am Bildschirm tauchen immer neue Zeilen auf, nach ein paar Sekunden verschwinden sie oben ins Nichts. Mit diesem Nichts will sich Fahlbusch nicht abfinden, deshalb läuft der Film, während er referiert. Der Film zeigt eine durchlaufende Excel-Tabelle, sie will Fehler im Justizsystem darlegen: Dass Hunderte abgelehnte Flüchtlinge in Deutschland unrechtmäßig in Abschiebehaft kommen.
Fahlbusch ist Anwalt, seine Liste enthält jene seiner Mandanten seit 2001, deren Haft rechtskräftig für rechtswidrig erklärt wurde. Knapp jeder zweite seiner Mandanten (genau 842) saß zu Unrecht im Gefängnis, mal für einen Tag, mal für mehrere Monate.
Fahlbuschs Film lief am Wochenende auf den "Hohenheimer Tagen", einer Konferenz zum Migrationsrecht in der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, wo sich Jahr für Jahr die Asylszene trifft, Richter, Anwälte, Wissenschaftler, Aktivisten. "Bewährungsprobe für die Menschenrechte" heißt es im Titel als Kommentar zur deutschen und europäischen Migrationspolitik. Das passt zeitlich, da Berlin wieder über schärfere Abschieberegeln debattiert. Nicht diskutiert wird, ob Behörden und Gerichte ein Problem haben, wenn es um ein Grundrecht geht, das auch abgelehnten Flüchtlingen zusteht: Freiheit.
Wolfsburg, München, Euskirchen, Bitterfeld. In Fahlbuschs Liste laufen Städte aus ganz Deutschland durch, Städte, in denen Ausländerbehörden oder Polizei einen rechtswidrigen Haftantrag verfasst haben. Kein Anwalt vertritt mehr Abschiebehäftlinge als der Hannoveraner Fahlbusch. Dass viel schief läuft, sagt nicht nur er, das stellte auch Johanna Schmidt-Räntsch, Richterin am Bundesgerichtshof, fest: Haftentscheidungen der Amtsgerichte hätten sich bei einer BGH-Prüfung "in einem bemerkenswert hohen Umfang - geschätzt 85 bis 90 Prozent - als rechtswidrig erwiesen". Das schrieb sie 2014.
Und heute? Auf SZ-Anfrage zählte der BGH nach: Seit 2015 beschäftigte man sich mit 301 Abschiebehaftfällen; davon verwies der BGH gut 13 Prozent zurück an Landgerichte, um nachzubessern; 99 Fälle entschied er selbst: "Hier wurde in der Regel die Haftanordnung für rechtswidrig erklärt." Fast jeder dritte Fall also.
737, 788, 828. In der rechten Spalte von Fahlbuschs Tabelle addiert sich die Gesamtzahl der unrechtmäßigen Hafttage. 1242, 1279, 1283. Mit jeder Sekunde wächst sie. Und so gut wie niemanden schert das, weder in Politik noch Justiz. Fahlbusch hat eine Stichwortliste erstellt von wiederkehrenden Gründen: Geplante Festnahme ohne richterliche Entscheidung, keine ausreichenden Angaben im Haftantrag, Haftantrag dem Betroffenen nicht ausgehändigt, kein oder falscher Dolmetscher, inhaftiert, obwohl nicht ausreisepflichtig, und und und.
"Diese Flüchtlinge haben keine Lobby"
Ausführlich nachlesen lässt sich das in den Entscheidungen des BGH, wenn er die Landgerichte korrigiert: Einmal saß einer zu lange in Haft, weil die Polizei keine Zeit für seine Abschiebung hatte, wegen eines Großeinsatzes. Einmal wurde Fahlbusch als Anwalt so knapp zur Anhörung geladen, dass er in dreieinhalb Stunden von Hannover nach Görlitz hätte fahren müssen. Die Gründe sind mannigfaltig, immer wieder aber urteilt der Bundesgerichtshof: Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens.
Hört man sich unter Juristen um, ahnt man die Ursachen der Pannen: Unerfahrene Beamte treffen auf ein kompliziertes Verfahren und zitieren dann schon mal ein veraltetes Gesetz als Haftbegründung. Mitunter gebe man solche Verfahren jungen Richtern oder denen, die sich sonst um Mord und Lebenslang kümmern.
"Diese Flüchtlinge haben keine Lobby." Fahlbusch erklärt sich so, warum das Thema kaum jemanden interessiert. Das ist auch der Tenor in Hohenheim: Weil die Leidtragenden der Justizfehler "nur" abgelehnte Flüchtlinge sind, und weil nach jahrelanger Asyldebatte weitgehend gesellschaftlicher Konsens besteht, möglichst viele rasch von ihnen außer Landes zu schaffen. So erklärt sich Fahlbusch auch, dass die Bundesregierung keine belastbaren Zahlen und kaum Interesse an seinen Erkenntnissen habe.