Die Wölfe in den französischen Südalpen haben sich eine erfolgreiche Taktik angewöhnt. Sie umheulen die Schafe auf den mit Elektrozäunen gesicherten Weiden so lange, bis diese in Panik geraten, ausbrechen und dabei die Zäune niedertrampeln. Dann halten die Wölfe Mahl.
So ähnlich wie die Schafe haben sich im Europawahlkampf etliche etablierte Parteien der gemäßigten Rechten und Linken verhalten. Bedrängt von radikalen, populistischen Europa-Gegnern wurden sie nervös. Sie brachen aus ihrer früheren europafreundlichen Politik aus, schoben alle Schuld für Missstände auf Brüssel und plapperten Parolen der Radikalen nach. Bürgerliche Parteien, etwa die CSU in Bayern, agitierten gegen Einwanderer. Sozialisten, zum Beispiel in Frankreich, verlangten Wachstum durch noch mehr Schulden und einen Wirtschaftspatriotismus. Doch so fielen die Etablierten erst recht unter die Wölfe. Euro-Feinde und EU-Skeptiker wurden bei dieser Wahl so richtig satt.
Europa ist anders geworden seit dem Sonntag. In sein Parlament, das bisher die Spielwiese der Europa-Freunde war, sind viele entschlossene Gegner eingezogen. Die Wähler haben griechische Neofaschisten und Linksradikale, italienische Fundamental-Oppositionelle, britische Brachial-Nationalisten, Wahre Finnen und antisemitische Ungarn zu Europaabgeordneten gemacht. In Frankreich, Gründerland und Säule Europas, triumphierte der rechtsradikale Front National von Marine Le Pen als stärkste Partei.
Der Grundkonsens ist dahin, jetzt triumphieren die Radikalen
Dieser Erfolg quer durch Europa zeigt: Der Grundkonsens für eine enge Zusammenarbeit des Kontinents, der jahrzehntelang herrschte, bröckelt. Die jahrelange Wirtschaftskrise, ein Gefühl der Verlorenheit in einem brutalen Globalkapitalismus, Angst vor Kriminalität und Überfremdung und der Eindruck, von entrückten Eliten manipuliert zu werden, treiben Millionen Bürger den Radikalen zu. Diese verheißen schlichte Lösungen. Ausländer raus. Grenzen hoch. Jobs auf Pump. Schulden einfach nicht zahlen. Das ist nassforsch, doch erfolgreich.
Die Folgen: Viele Europa-Freunde verzagen. Der Untergang des Einigungswerks wird prophezeit, oder zumindest sein massiver Rückbau. Die Zeiten weiterer Integrationsschritte, die etwa in der Finanz- und Verteidigungspolitik notwendig wären, scheinen vorbei zu sein. Manche der populistischen Neu-Abgeordneten frohlocken bereits, sie könnten Europa jetzt von innen heraus zerstören.
Es muss nicht so kommen. Denn es gibt Beispiele, wie man Extremisten besiegt. Matteo Renzi hat gerade eines gegeben. Der junge italienische Regierungschef erzielte mit seinen Sozialdemokraten ein sensationelles Ergebnis. Er erhielt 41 Prozent der Stimmen, fast doppelt so viel wie sein großer Konkurrent, der demagogische Komiker Beppe Grillo. Noch nie hat in Italien eine Partei bei Europawahlen so gut abgeschnitten wie am Sonntag die Sozialdemokraten. Und das in einem Krisenland, das gerade noch zwischen Wut und Verzweiflung schwankte.
Wie hat Renzi das gemacht? Und lässt sich von ihm lernen? Renzi zeigte Courage. Er stellte sich den Europa-Skeptikern und führte einen selbstbewussten, europafreundlichen Wahlkampf. Er bekannte sich zum Euro und zu seriöser Haushaltsführung und sagte den Italienern, dass sie ihr Land nicht Europa zuliebe, sondern für sich selbst reformieren müssten. Renzi suchte die Schuld nicht in Brüssel. Renzi übernahm Verantwortung. Renzi ging rasch Reformen an, auch wenn das in Rom besonders schwer ist. Er verjüngte die politische Klasse. Er weckte Hoffnung, wo lange keine mehr war.
Gewiss: Der junge Wilde aus Florenz ist kein Messias. Er wird noch auf viel Widerstand stoßen. Etwa die Hälfte aller Stimmen in Italien fielen auf europaskeptische Parteien. Doch Renzi hat den Vormarsch Grillos gestoppt. Europa darf ihm dafür dankbar sein.
Es lohnt sich, für die EU zu kämpfen
Das Gegenbeispiel liefert eine romanische Schwester Italiens: Frankreich. Dabei ist die Ausgangslage ähnlich. In beiden Ländern herrschen sozialdemokratische Parteien, die von Populisten gejagt werden. Doch Präsident François Hollande in Paris ging andere Wege als Renzi in Rom. Er zauderte und zagte, hoffte auf ein Wunder des Wachstums statt zu reformieren. Etliche seiner Sozialisten suchten die Schuld an der Krise lieber in Brüssel als zuhause. Sie flirteten mit euro-feindlichen Positionen, ohne sich zu trauen, diese umzusetzen. So überzeugten sie keinen. So siegte Madame Le Pen.
Der Wahlausgang in diesen beiden Staaten demonstriert: Es lohnt sich, für die EU zu kämpfen. Man kann auch mit Europa siegen. Wer jedoch vor den Wölfen scheut, hat schon verloren.