Auf den Berliner Straßen erfährt man neuerdings, dass ein starkes Europa gut für Deutschland ist, dass der Hass geht, wenn der Mut kommt. Oder man wird vor der Gefahr gewarnt, aus Europa könne "Eurabien" werden. Gut fünf Wochen vor der Europawahl ist der Kampf um die Stimmen auf den Straßen deutscher Großstädte angekommen. Das ist nicht überall so. Als ich neulich im polnischen Stettin war, ist mir kein einziges Wahlplakat aufgefallen. Mit der Europawahl verhält es sich wie mit der EU an sich. Sie ist eine gemeinsame Sache, aber kein einheitliches Ding. Sie lebt von den Unterschieden.
Deshalb ist es auch so schwierig, den Ausgang der Wahl vorherzusagen. An diesem Donnerstag veröffentlichte das Europäische Parlament trotzdem eine Projektion, wonach die in der Europäischen Volkspartei (EVP) zusammengeschlossenen Christdemokraten mit 180 Sitzen klar stärkste Fraktion werden dürften vor den Sozialdemokraten (S&D) mit 149 Sitzen. Schließen sich die verschiedenen Rechtspopulisten und Rechtsradikalen zu einer Fraktion zusammen, würden sie demnach drittstärkste Kraft. Dahinter rangieren die Liberalen (ALDE).
Die Schwäche solcher Vorhersagen zeigt sich allerdings schon daran, dass derzeit nicht einmal gewiss ist, wie viele Abgeordnete insgesamt Platz nehmen werden. Nach dem Austritt Großbritanniens sinkt die Zahl der Sitze von 751 auf 705. Aber wann tritt Großbritannien aus? Fest steht nur: Wenn die Briten nach dem 22. Mai noch in der EU sind, müssen sie auch mitwählen. Über diese Aussicht ist der CSU-Mann und EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber nicht begeistert. Er könne "niemandem erklären, wie es sein kann, dass ein Land, das aus der EU austritt, maßgeblichen Einfluss auf die Europawahl nehmen wird", beschwerte er sich. Im Europaparlament könnte der Verbleib der Briten die Sozialdemokraten stärken, aber vor allem auch die Anti-Europäer.
Rechtspopulisten und Nationalisten wie der Italiener Matteo Salvini, der Ungar Viktor Orbán und der deutsche Alexander Gauland träumen davon, die europäische Integration zu großen Teilen rückabzuwickeln. Nimmt man diese Herren ernst, und das sollte man, dann entscheiden die Bürgerinnen und Bürger Ende Mai nicht nur über die weitere Richtung, sondern das Schicksal der EU.
In einem interessanten Bericht, den die Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) in dieser Woche veröffentlicht hat, wird allerdings mit dem Mythos aufgeräumt, bei der Wahl prallten einfach nur Nationalstaatler und Pro-Europäer aufeinander. Die Dinge liegen komplizierter. Die ECFR-Experten haben vier große Wählergruppen ausgemacht: Da sind zum einen die "Systemgläubigen", die sowohl in den eigenen Staat als auch in die EU ihr Vertrauen setzen. Eine weitere Gruppe sind die eher linken "Pro-Europäer", die das Vertrauen in den eigenen Staat verloren haben, aber europäische Werte hochhalten. Als "Gelbwesten" bezeichnet der ECFR wiederum jene, die das Vertrauen in das eigene politische System ebenso verloren haben wie das in die EU. Und dann gibt es natürlich noch die "nationalistischen Euroskeptiker", die das Heil nur im eigenen Staat suchen. Der ECFR hält sie mit 14 Prozent für die kleinste Gruppe.
Was folgt daraus? Es gibt zwar so etwas wie ein europäisches Gefühl. Das zeigt die Welle der Solidarität von Polen bis Portugal nach dem Brand der Kirche Notre-Dame in Paris. Aber schlichte Kampagnen "für" oder "gegen" die EU werden die Wahl nicht entscheiden. Die Parteien müssen sich schon die Mühe machen, für konkrete Positionen zu werben. Ein Drittel der Wähler hat sich den Erhebungen zufolge bisher für keine Partei entschieden. Der Wahlkampf lohnt also noch.
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