Merkel in Brüssel:Europa muss wieder begeistern

Europawahl 2019 Wahlkampf

Proeuropäische Demonstrationen gibt es auch in Italien, wie hier in Rom.

(Foto: AFP)

Die Europawahl 2019 entscheidet darüber, ob die EU eine Zukunft hat. Angela Merkel hat das verstanden, in Straßburg hat sie eine offensive Rede gehalten. Auch die Wahlkämpfer sollten mutig sein.

Kommentar von Heribert Prantl

Der Europawahlkampf hat begonnen. Die neunte Direktwahl zum Europäischen Parlament ist die wichtigste Europawahl, die es je gegeben hat. Gewiss, so etwas wird in jedem Wahlkampf behauptet. Aber diesmal stimmt es wirklich - und Angela Merkel hat das verstanden.

Ihre Rede im Parlament zu Straßburg war eine offensive, eine fast kämpferische, eine selbstbewusste und auch selbstkritische Rede, die in einem (wenn auch noch sehr vagen) Plädoyer für eine europäische Armee gipfelte. Merkel ging damit endlich, endlich wenigstens ein wenig auf den französischen Präsidenten Macron zu.

Es braucht diese, es braucht noch viel mehr Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Frankreich, wenn der Glaube an die Kraft Europas wieder aufleben und den Wahlkampf prägen soll. Die Europäer werden für ein junges, aufgewecktes, für ein sich reformierendes Europa kämpfen müssen wie nie zuvor, weil die Europawahl im Mai die Antwort geben muss auf die neuen Nationalismen und auf die neuen Aggressivpopulismen.

Die Europawahl 2019 entscheidet darüber, ob Europa ein Abwicklungs- und Abbruchprojekt wird oder ein Zukunftsprojekt bleibt. Die Europagegner wollen aus dem neuen Europa wieder das alte machen, es wieder zerstückeln und diese Stücke bewachen. Sie betrachten Europa als parzellierte Landkarte und stecken in die Felder ihre Fahnen: "Take back control" nennen sie das. Es wäre das Ende Europas. Das zu verhindern - darum geht es bei der Europawahl 2019.

Es heißt, Europa müsse sich gegen den Rechtspopulismus wehren. Das stimmt. Aber das geht nur, wenn Europa wieder populär wird: Europa muss wieder begeistern können. Europa braucht Leidenschaft, nicht Technokratensprech. Europa muss leuchten.

Das Wort "Rechtspopulismus" darf nicht zu einer niedlichen, unzulässig verharmlosenden Bezeichnung für eine gefährliche Sache gemacht werden - für eine extremistische Politik, die auf Grund- und Menschenrechte, auf die Achtung von Minderheiten pfeift. Es ist nicht Populismus, der Europa kaputt macht, sondern der populistische Rechtsextremismus, der aus Nationalismus und Rassismus besteht, aus der Verhöhnung von Anstand und Diplomatie.

Europa braucht Politiker, die die Emotionen nicht den Populisten überlassen

Politikern, die mit Herzblut, stürmisch und dabei auch bisweilen vereinfachend und vergröbernd ihre Sache vertreten, wird gern Populismus vorgeworfen, um sie abzuqualifizieren. Aber es braucht auch diese populäre Art und Weise, Politik begreifbar zu machen. Europa braucht solche Köpfe und Stimmen, die die Emotionen nicht den Extremisten überlassen; Europa braucht Politikerinnen und Politiker, die Grundrechte, Rechtsstaat und europäische Zukunft mit Verve gegen deren Verächter verteidigen.

Das geht nicht mit Phrasen, sondern mit Herz, Verstand und einer klugen Fortentwicklung der EU-Politik. Das geht auch nicht in einer selbstgerechten und schulmeisternden deutschen Attitüde, die die Verantwortung für die Krisen der EU dem angeblichen Schlendrian der Anderen anlastet.

"Europa" ist zu einem geschundenen Wort geworden

Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat soeben auf dem SZ-Wirtschaftsgipfel bekannt: "Das Soziale ist kein Beiwerk, es ist das Herz der Union." So sollte es sein; so ist es leider noch nicht. Die Europäer müssen spüren, dass die EU ihre Schutzgemeinschaft wird; erst gute Sozialpolitik macht aus der EU eine Heimat. Eine EU-Arbeitslosenversicherung, wie sie Macron vorschlägt, gehört dazu, auch eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik.

Europa ist das Beste, was den Deutschen, Franzosen und Italienern, den Dänen, Polen und Spaniern, den Bayern, Basken und Balten in ihrer langen Geschichte passiert ist. EU ist das Kürzel für das Goldene Zeitalter der europäischen Historie. Man schreibt das so hin, weil es stimmt; dann erschrickt man fast, weil das zur EU-Gegenwart so gar nicht passt.

Die Wahlkämpfer für Europa sollten mutig sein

"Europa" ist zu einem geschundenen Wort geworden, nicht erst seit dem Brexit, aber seitdem noch mehr. Es gibt viel zu klagen. Aber über all der Klagerei haben die Europäer verlernt, das Wunder zu sehen; sie haben nur noch die Wunden gespürt. Wer mit den Wunden beschäftigt ist, ist kaum bereit, sich um Verwundete von anderswo, um Flüchtlinge, zu kümmern - erst recht, wenn er, wie Italien, von den anderen alleingelassen wird.

Die Weltkriege rücken, trotz aller Gedenkfeiern, immer weiter weg. Vielen Europafreunden gilt daher die EU weniger als Errungenschaft der Friedenssehnsucht, denn als Selbstverständlichkeit. Aber das Selbstverständliche ist nicht selbstverständlich. Ein Blick vor die Tore Europas zeigt, wie wenig selbstverständlich ein unkriegerischer Kontinent ist. Millionen Menschen in kriegsverwüsteten Staaten haben Sehnsucht nach dieser Selbstverständlichkeit.

Glücklich ist, wer es wagt, das, was er liebt, mit Mut zu beschützen. Der Satz stammt vom römischen Dichter Ovid. Die Wahlkämpfer für Europa sollten mutig sein und sich dieses Glück gönnen.

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