Bei ihrer vorigen Rede im Europäischen Parlament in Straßburg hatte Angela Merkel Abschied genommen. Am 2. Juli 2017 war die Bundeskanzlerin beim "europäischen Trauerakt" für Helmut Kohl aufgetreten und hatte den Altkanzler als Vater der "Europäischen Union in ihrer heutigen Form" gewürdigt.
16 Monate später steht Merkel wieder im Straßburger Plenarsaal, und obwohl sie über die "Zukunft Europas" sprechen wird, liegt wieder ein Hauch von Abschied in der Luft. Dass eine Ära zu Ende geht, wissen alle 751 Abgeordneten - nur eben nicht, wann dies eintreten wird.
Die Bundeskanzlerin selbst spricht nicht an, dass sie im Dezember nicht mehr für den Vorsitz der CDU kandidieren wird. Sie beginnt mit einem Zitat von Walter Hallstein, dem bisher einzigen deutschen Chef der EU-Kommission, der 1969 die europäische Einigung als Konzept "beispielloser Kühnheit" bezeichnet hatte. Merkel preist die Toleranz als "Seele Europas", und es dauert eine knappe Viertelstunde, bis sie selbst kühner wird und einige Abgeordnete richtig laut werden im Plenum.
Kanzlerin im EU-Parlament:Merkel plädiert für "echte europäische Armee"
Eine solche Armee würde der Welt zeigen, "dass es zwischen den europäischen Ländern nie wieder Krieg gibt", sagt die Kanzlerin in Straßburg. Sie betont: Es solle "keine Armee gegen die Nato" sein.
Hier wird klar: Viele haben sich vorbereitet auf den Besuch jener Politikerin, die Europas Politik seit Jahren prägt. Mit Buhrufen reagieren Linke und Rechtskonservative auf Merkels Aussage, man müsse "an der Vision arbeiten, eines Tages eine echte europäische Armee zu schaffen", wie sie auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fordert - und bei Themen der Außen- und Sicherheitspolitik auf das Prinzip der Einstimmigkeit verzichten.
Der Protest belebt die Kanzlerin: "Ich freue mich daran, ich lasse mich da doch nicht irritieren." Sie sieht das Gejohle als Beleg dafür, "den Kern" getroffen zu haben. Das Bild von Europa, das Merkel skizziert, ist eines, das den Rechtspopulisten nicht gefallen kann. Sie betont, dass Freiheit ebenso verteidigt werden müsse wie die Vielfalt der Menschen.
Als zentralen Begriff nennt sie "Solidarität". Dies bedeute auch, dass die nationalen Entscheidungen nicht folgenlos blieben: "Wer Meinungs- und Pressefreiheit einschränkt, gefährdet Rechtsstaatlichkeit in ganz Europa." Auf diese indirekte Kritik an Ungarn, Polen und Rumänien folgt die Mahnung an Italien, die Euro-Zone nicht durch unsolides Wirtschaften zu gefährden. Besonders laut wird der Protest, als Merkel betont, dass auch in der Migrations- und Flüchtlingspolitik Solidarität gelten müsse.
Kritik in homöopathischen Dosen - erst einmal
Heftig hatte es zuletzt geknirscht zwischen Paris und Berlin, aber so richtig dürfte sich Macron über das wenig konkrete Bekenntnis der Kanzlerin zur EU-Digitalsteuer sowie zur Weiterentwicklung der Bankenunion nicht freuen. Es folgt freundlicher Applaus und zunächst nur Kritik in homöopathischen Dosen.
Denn da das Protokoll strikt eingehalten wird, antworten in Jean-Claude Juncker und EVP-Fraktionschef Manfred Weber zwei Christdemokraten auf Merkel. Der Kommissionspräsident lobt "die liebe Angela" für ihre Reaktion auf die Flüchtlingsströme im Jahr 2015: "Sie hatten recht, dass Sie die Grenzen nicht geschlossen haben."
Der CSU-Politiker Weber, den die Kanzlerin zum Nachfolger von Hallstein und Juncker machen will, fordert vehement, dem EU-Parlament das Recht zu geben, Gesetze einzubringen.
Udo Bullmann, der Fraktionschef der Sozialdemokraten, ist der Erste, der sich mehr von der Kanzlerin wünscht. "Wir Deutsche haben nicht das Recht, in Sachen Europa zu versagen", ruft Bullmann und fordert ein Ende des - wie er es sieht - Merkel'schen Kleinmuts.
Ska Keller von den Grünen beklagt, dass Berlin "konsequent auf der Bremse" stehe, wenn es um Europa gehe. Gerade in der Umweltpolitik seien konkrete Ziele nötig: "Das Klima lässt sich nicht retten mit vagen Absichtserklärungen und Gletscherfotos."
Deutsch-französisches Verhältnis:Merkels Zögern verärgert Macron
Macron vermisst eine deutsche Antwort auf seine Europa-Initiativen. Sein Missmut über Merkel geht über den Streit um die EU-Digitalsteuer hinaus.
Von den Populisten und Euroskeptikern erfährt Merkel viel Häme. Der ehemalige Ukip-Chef Nigel Farage dankt ihr für ihre Flüchtlingspolitik ("Ohne Sie hätten wir es nie geschafft mit dem Brexit").
Für die Liberalen spricht Guy Verhofstadt das Thema an, das Merkel und Weber bis zur Europawahl 2019 nerven wird: Erstmals seit 75 Jahren werde in Europa eine Universität geschlossen - und zwar im Ungarn des autokratisch regierenden Viktor Orbán, dessen Fidesz-Partei immer noch zur Europäischen Volkspartei gehört. Verhofstadts Frage "Wann machen Sie dem endlich ein Ende?" stellen sich viele im Plenum, in dem es bis zum Ende ziemlich lebhaft zugeht.
"Sie zerstören täglich Europa"
Auf die Fraktionschefs folgen jene Abgeordnete, die sich rechtzeitig gemeldet haben. Hier ist die Bandbreite der Themen enorm und auch das Urteil über die Kanzlerin. "Sie zerstören täglich Europa, unser Reichtum und unsere Volkswirtschaft wurden zerstört", ruft ein wütender Parlamentarier aus Griechenland, während anderen die Aussicht auf ein Europa ohne Merkel sichtbar Sorge bereitet.
In ihrer Reaktion geht Merkel auf den Vorwurf, Orbán stehe für eine "illiberale Demokratie", nicht ein. Die Herausforderung für Deutschland in Europa umschreibt sie pragmatisch: Sie halte wenig davon, Dinge vorzuschlagen, für die sich keine Mehrheit finde. Am Ende spricht sie über die EU als Friedensprojekt: "Alle, die überzeugt sind, dass das multilaterale Europa die richtige Lehre aus der Geschichte ist, die müssen zusammen nach Lösungen suchen." Wenn sie künftig so auftritt wie in Straßburg, wird es ein spannender Europawahlkampf.