Wenn man einmal zurückblicken wird auf diese merkwürdige Dekade, wird der 13. September 2017 nicht übergangen werden können. Er wird, wenn nicht alles täuscht, als Tag markiert werden, an dem die Europäische Union endgültig den Versuch unternahm, wieder Tritt zu fassen. Diese Union hat furchtbare Jahre hinter sich, Krisen, die sie an den Rand ihrer Existenz führten, eine Zeit voller Selbstzweifel und schierer Angst: um Leib und Leben der Bürger, um Wohlstand, Wohlfahrt und eine gemeinsame friedliche Zukunft der europäischen Nationen. Unzufriedenheit und Unsicherheit kulminierten im Brexit, dem Auszug eines der bedeutendsten Staaten aus dem europäischen Haus.
Die Union hat es überlebt, zu ihrem Glück. Ganz offensichtlich ist der Wille zur Einigung stärker als die Kraft jener, die die EU für ein Unglück halten. Mit seiner Rede zur Lage der Union hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker versucht, einen Punkt hinter diese Zeit zu setzen. Indem er einen Weg skizziert hat für die Zeit danach. Das Europa, das aus dieser Rede resultiert, ist ein (wieder) selbstbewussteres Europa. Es ist stolz auf seine Errungenschaften: Frieden, Freiheit, nicht zuletzt Meinungsfreiheit, Wohlstand für viele, wenn auch nicht alle. Es ist stark nach innen, wenn es auf Rechtsstaatlichkeit und Vertragstreue besteht. Und nach außen, wenn es Diktatoren und Populisten in aller Welt die Stirn bietet oder sich mit dem vorgeschlagenen Investitionsscreening von einer gewissen Naivität in der Handelspolitik verabschiedet.
Junckers Europa ist ein geläutertes Europa
Es ist ein Europa, das gelernt hat. In der Wirtschafts- und Währungspolitik sind Korrekturen vorgenommen worden. Sie reichen nicht. Ein EU-Finanz- und Wirtschaftsminister muss ebenso kommen wie ein Euro-Haushalt. Und wohl noch einiges mehr. Was die Sicherheit betrifft, haben die EU-Politiker einiges auf den Weg gebracht. Der Kontinent ist nicht mehr ganz so schutzlos, wie er vor Jahren war. Das gilt, trotz aller fortbestehenden Probleme, auch für die Außengrenzen der EU und den Umgang mit der Flüchtlingskrise.
Aber Junckers Ehrgeiz reicht noch weiter. Mit einiger Freude kehrte er den europäischen Föderalisten heraus, den er lange verbergen musste. Ganz in der Tradition seiner politischen Ziehväter und Idole Jacques Delors und Helmut Kohl lud er alle Staaten ein, endlich den Euro einzuführen und dem Schengen-Vertrag beizutreten. Und er brachte interessante, wichtige Reformen ins Spiel, die Europa mehr Effizienz und auch mehr Sex-Appeal verleihen könnten: transnationale Wahllisten, ein Zusammenlegen der Ämter von Kommissions- und Ratspräsident, mehr Mehrheitsentscheidungen in wichtigen Politikfeldern.
Und doch ist es eben nicht der alte Weg, auf den Juncker zurückkehren möchte. Die Selbstverständlichkeit, mit der die frühen Baumeister der Gemeinschaft davon ausgingen, ihre supranationalen Visionen, die aus den Erfahrungen mit Weltkriegen und Naziterror gründeten, seien automatisch gut für diesen Kontinent und müssten den Bürgern quasi wie von selbst einleuchten und gefallen, diese Selbstverständlichkeit gibt es nicht mehr. Sie wurde der EU ausgetrieben vom islamistischen Terror, der Finanzkrise, den eklatanten Mängeln der Euro-Konstruktion. Junckers Europa ist ein geläutertes Europa, das aus Fehlern gelernt hat, ein bescheideneres Europa, das nicht mehr alles will. Das möglichst keine Heilsversprechen mehr macht. Und das vor allem auf seine Bürger hört und achtet.
Das klingt alles zu schön, um wahr zu sein? Vielleicht. Es ist nicht ausgemacht, dass sich die Staaten auch nur die Hälfte von Junckers Vorschlägen abringen lassen. Und dass die Bürger sich einbinden lassen, dass sie mitziehen bei diesem neuen Europa. Es könnte sein, dass die nächste größere Finanzkrise die weiterhin wackelige Euro-Konstruktion über den Haufen wirft. Es gibt Zweifel, dass die EU in ihrer Flüchtlingspolitik noch ihrem moralischen Leitstern folgt.
Junckers Grundidee aber ist die richtige. Wenn diese Union weiterbestehen und vorankommen will, muss sie sich auf das Wesentliche konzentrieren. Und sie muss sicherer und demokratischer werden. Dafür lohnt es sich zu kämpfen. Hält sich die Union einigermaßen an diesen Fahrplan, könnte sie das nicht nur stärker, sondern auch attraktiver machen, auch für neue und alte Beitrittskandidaten. Allerdings könnte es auch sein, dass der eine oder andere Mitgliedstaat auf der Strecke bleibt - eben jene, die schon heute hadern mit Werten, für die Europa steht: Rechtsstaatlichkeit, und zwar ohne Ausnahme, und Solidarität. Solidarisch kann man nur sein, wenn einem etwas am Herzen liegt. Die Union der Europäer, so viele Mängel sie auch hat, sollte allen Europäern am Herzen liegen.