Hotspots für Flüchtlinge:Lassen sich Flüchtlinge widerstandslos zwischenparken?

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Ein Mann und sein Kind erreichen die Küste der griechischen Insel Lesbos. (Foto: AFP)

Verteilzentren für Flüchtlinge sollen Ordnung ins Chaos bringen. Es ist aber fraglich, ob sich dieser sehr bürokratische Ansatz umsetzen lässt.

Von Thomas Kirchner

Langsam lichtet sich der Nebel um die ominösen Hotspots, jene Erstaufnahmezentren, die Ordnung in das Flüchtlingschaos bringen und kurzfristig vor allem die Zustände auf der Balkan-Route bessern sollen. Die ersten Zentren in Italien und Griechenland stehen. Derzeit sammelt die EU von allen Mitgliedstaaten Asylbeamte und Grenzschützer ein, die den nationalen Behörden unter die Arme greifen. Technisches Gerät wird geliefert, damit die Daten der Flüchtlinge in das europäische Eurodac-System eingespeist werden können. 86 Flüchtlinge sind umverteilt worden; etwa 850 Plätze stehen kurzfristig zur Verfügung (siehe Grafik unten). In den kommenden zwei Jahren sollen es 160 000 werden.

Das ist kein grandioser Beginn, aber es sei zu früh, die ersten Erfahrungen mit der Umverteilung zu beurteilen, heißt es in Berlin und Brüssel. Deutlich wird indes, dass längst noch nicht alle an einem Strang ziehen. Das betrifft viele osteuropäische Staaten, die die ganze Idee weiterhin ablehnen, fast keine Zusagen machen und auf besseren Grenzschutz pochen. Aber auch zwischen den Zentren Brüssel/Berlin und Rom/Athen differieren die Meinungen noch erheblich, und zwar in grundlegenden Fragen. Da gebe es offenbar "Wissenslücken", sagen Diplomaten, vieles werde auch bewusst falsch verstanden.

SZ-Grafik; Quelle: Europäische Kommission (Foto: sz grafik)

Derzeit kommen in Griechenland täglich etwa 10 000 Flüchtlinge an

Das größte Problem sind die Kapazitäten der Hotspots. Wenn die Zentren wie von der EU-Kommission geplant funktionieren sollen, werden dort Tausende Menschen durchgeleitet, von der Registrierung über die Erstversorgung bis zur Umverteilung beziehungsweise Abschiebung. Das alles geht nicht in ein paar Stunden. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR rechnet mit 30 Tagen, die ein Flüchtling durchschnittlich in einem Hotspot verbringen müsste. Gesetzt den Fall, es kämen 2000 Flüchtlinge am Tag in ein Zentrum, müssten also 60 000 Plätze bereitgehalten werden. Derzeit kommen in Griechenland täglich etwa 10 000 Flüchtlinge an.

Weder Griechen noch Italiener sind begeistert von der Aussicht, solche Stätten mit allen dazugehörenden Problemen auf ihrem Gebiet zu haben - und schlimmstenfalls die Flüchtlinge im Land behalten zu müssen, wenn es bei der Umverteilung hakt. Das Treffen vom Sonntag diente auch dazu, Griechenland diese Sorge zu nehmen und es der Solidarität der Europäer zu versichern. Premierminister Alexis Tsipras ist inzwischen bereit zu einer intensiveren Zusammenarbeit, auch wegen der Gespräche der EU mit der Türkei. Athen fordert aber umfangreiche Hilfe in Form von Geld, Geräten und Helfern. Bis Jahresende seien alle fünf geplanten Hotspots fertig, versicherte Tsipras in Brüssel.

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Zagreb winkt ab

Auch in Kroatien würden manche gern einen Hotspot platzieren, doch die Regierung in Zagreb winkt ab. Experten von UNHCR, der EU-Grenzschutzagentur Frontex und des EU-Asylbüros Easo überlegen derweil, wie die Hotspots so gestaltet werden können, dass die Flüchtlinge nicht sofort davonlaufen, weil sie glauben, dass sie in eine Sackgasse geraten. Besonders lang werden jene Flüchtlinge in den Hotspots bleiben, die zwar nicht für die Umverteilung infrage kommen, aber auch nicht abgeschoben werden können. Deshalb will man mit Ländern wie Pakistan und Afghanistan über verstärkte Rückführungen verhandeln.

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Die Frage, die bisher niemand gerne anspricht, lautet: Wie viel Gewalt muss angewendet werden, damit dieses ambitionierte Aufnahme- und Verteilsystem auch in der Wirklichkeit funktioniert? Wie bringt man die Flüchtlinge dazu, sich so zu verhalten, wie sich die Bürokratie das wünscht, sich also brav in die Hotspots zu begeben, sich registrieren, eine Weile "zwischenparken" zu lassen, friedlich in ein Land zu reisen, das vielleicht nicht der eigenen Wahl entspricht - und schließlich dort zu bleiben, auch wenn die Bedingungen anderswo verlockender wären? Die "Sekundärmigration" will man bisher dadurch begrenzen, dass man anerkannten Flüchtlingen ihre Leistungen und Rechte nur im zugewiesenen Land gewährt. Kann das reichen?

Hinsichtlich der Bewegungsfreiheit rund um die Hotspots ist nur vage von "polizeilichen Maßnahmen" zu hören, die ins Spiel kommen müssten, "sonst verschwinden die". Wer gesehen hat, wie Flüchtlinge mit fast übermenschlicher Energie meterhohe Stacheldrahtzäune überwinden, um an ihr Ziel zu kommen, kann sich ausmalen, welche Dimension solche "Maßnahmen" erreichen könnten. Es lohnt sich, schon jetzt darüber zu diskutieren, was mit europäischen Werten noch vereinbar wäre und was nicht. Ein hoher EU-Beamter formulierte die Frage kürzlich treffend: "Wie viele hässliche Bilder sind wir bereit zu akzeptieren?"

© SZ vom 26.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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