Emmanuel Macron hatte einen Traum: Alle Bürger der Europäischen Union sollten ihre Volksvertreter bei der nächsten Europawahl über Wahllisten bestimmen, die überall in der EU gleich sein würden. Eine spanische Wählerin hätte sich also nicht nur für die Abgeordneten ihres Landes entscheiden können, sondern auch für Kandidaten aus allen anderen Staaten. Doch daraus wird nichts. Das Europäische Parlament hat dem Ansinnen des französischen Präsidenten eine Absage erteilt. Die Mehrheit der Abgeordneten stimmte am Mittwoch dagegen.
Damit haben die Abgeordneten selbst eine Gelegenheit verpasst, ihrem Parlament und der europäischen Politik insgesamt mehr Aufmerksamkeit und Bedeutung zukommen zu lassen. Noch setzen sich die Europawahlen aus 28 einzelnen nationalen Wahlen zusammen, die zu unterschiedlichen Terminen stattfinden, mit unterschiedlichen Wahlsystemen und jeweils nationalen Kandidaten geführt werden. Die Parteien und Fraktionszusammenschlüsse, denen die gewählten Abgeordneten in Brüssel und Straßburg angehören, haben keine Möglichkeit, die Wähler direkt anzusprechen. Experten glauben, dass dies mit ein Grund für die relativ geringe Beteiligung an Europawahlen ist, die seit dem Beginn der Direktentscheidung vor knapp 40 Jahren von 62 Prozent auf nur noch knapp über 40 Prozent gesunken ist.
Den Wunsch, daran etwas zu ändern, gibt es schon seit Jahren. Bisher scheiterte er am Widerstand von Mitgliedern, die für eine europaweite Liste keine "nationalen" Sitze aufgeben wollten. Durch den bevorstehenden Austritt Großbritanniens werden nun 73 britische Mandate frei, die nach einem Schlüssel hätten aufgeteilt werden können: 27 wären benutzt worden, um Abweichungen vom Prinzip der Gleichwertigkeit einer Wählerstimme zu korrigieren - eine Regel, die vor allem größere Staaten benachteiligt. Das Europaparlament akzeptierte nun eine Wahlrechtsreform, die diesen Mangel ausgleichen soll. Unter anderem Frankreich und Spanien erhalten nun fünf zusätzliche Abgeordnete.
Die britischen Sitze werden vorerst gestrichen - bis ein neues Mitglied beitritt
Mit den restlichen 46 Sitzen hätte eine Art gesamteuropäische Wahlliste gebildet werden können. Die Wähler hätten dann eine zweite Stimme abgeben können, mit der Kandidaten von dieser Liste gewählt worden wären. Für diesen Reformteil gab es keine Mehrheit. Nach dem Willen des Parlaments werden diese Sitze nun vorerst gestrichen und für eine mögliche EU-Erweiterung reserviert.
Dem Votum waren engagierte Plädoyers in beide Richtungen vorausgegangen. Die Einführung transnationaler Listen sei eine "historische Chance", die man nicht verstreichen lassen dürfe, sagte der liberale Fraktionsführer Guy Verhofstadt. Nur auf diese Weise könne ein "europäischer Demos" entstehen, "und nicht zufällig, spontan, von allein". Die Europawahlen befänden sich "im Gefängnis nationaler Wahlsysteme" und nationaler Listen, beklagte der Abgeordnete Jo Leinen (SPD). "Die europäischen Parteien können nicht um Mandate kämpfen, deswegen sind sie keine richtigen Parteien."
Der Widerstand gegen die neuen Listen kam überwiegend von christdemokratisch-konservativer und rechtspopulistischer Seite sowie eher aus dem östlichen als dem westlichen Teil der EU. Nach Ansicht der Christdemokraten sollte es beim direkten Bezug zwischen einem Abgeordneten und seinem Heimatwahlkreis bleiben. Es sei einem Deutschen nicht zu vermitteln, etwa für einen Portugiesen oder Litauer zu stimmen. In seiner Fraktion gebe es "eine klare Ablehnung transnationaler Listen", sagte Manfred Weber (CSU), Fraktionschef der Europäischen Volkspartei. Die Listen würden "viel Distanz zwischen Wähler und Abgeordnete bringen". Jörg Meuthen (AfD) nannte die transnationalen Listen "zentralistischen und bürgerfernen Unfug". Allerdings kamen viele Nein-Voten auch von der Fraktion der Linken was damit zu tun haben könnte, dass sie nur in 17 Mitgliedstaaten präsent ist. Selbst die Sozialdemokraten stimmten uneinheitlich ab.
Mit großer Wahrscheinlichkeit wären die europaweiten Listen nicht schon bei der nächsten Europawahl im Frühjahr 2019 zum Einsatz gekommen. Schließlich wäre die Zeit für eine Umsetzung knapp geworden. Außerdem ist unklar, wie sich die Staats- und Regierungschefs zu dem Vorhaben positionieren, die in zwei Wochen auf einem Sondergipfel über institutionelle Reformen in der EU befinden.
Fraktionsübergreifend einig waren sich die Abgeordneten hingegen, dass sie bei der Wahl zum nächsten Präsidenten der EU-Kommission am System der Spitzenkandidaten festhalten wollen. Das Parlament werde nur Bewerber akzeptieren, die als Spitzenkandidaten der europäischen Parteien angetreten seien, hieß es in einer mit großer Mehrheit angenommenen Entschließung. Das System war 2014 erstmals praktiziert worden und hatte die begleitenden Europawahlen belebt. Früher hatten die Staats- und Regierungschefs das Amt mit einem Kandidaten ihrer Wahl besetzt.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker warnte davor, dass die EU-Regierungschefs den "winzigen Demokratiefortschritt" wieder abschaffen könnten: "Ich sage nur, die Gefahr ist groß." Es gebe im Europäischen Rat, "so wie ich das fühle, voraussehe, spüre, fast eine Mehrheit dagegen", sagte Juncker. "Dies ist ein Konflikt zwischen den politischen Parteien, dies würde ein Konflikt werden zwischen diesem Haus und dem Europäischen Rat." Diesen Konflikt müsse man austragen, damit das 2014 Erreichte auch 2019 wieder stattfinde. Bei der letzten Europawahl gelang es Juncker als Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei, den Sozialdemokraten Martin Schulz zu besiegen.
Bei der nächsten Wahl dürfte indes das Prinzip fallen, dass die stärkste Parteienfamilie automatisch den Kommissionspräsidenten stellt. Gegen dieses Prozedere steht Macron, der sich wohl keiner der etablierten Fraktionen im EU-Parlament anschließen will. Auch andere politische Lager hoffen auf neue Mehrheitsverhältnisse.