Essay zur Europawahl:Die unvollendete Union

Lesezeit: 6 min

Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: N/A)

Eigentlich müsste der Mehrwert der EU jedem einleuchten. Und doch könnte die Beteiligung an der Europawahl wieder sinken. Ändern ließe sich das wohl nur, wenn die EU zu einer "echten" Demokratie würde.

Von Thomas Kirchner

Fangen wir mit dem Positiven an, einer kurzen Meldung aus der vorvergangenen Woche. Ihr zufolge sind zumindest die Bayern ganz heiß auf die Europawahl. Bei einer Umfrage im Auftrag des Bayerischen Rundfunks gaben 66 Prozent der Befragten an, sehr stark oder stark an der Wahl interessiert zu sein. 2014 waren es nur 40 Prozent gewesen. Allerdings heißt Interesse noch nicht, dass die Betreffenden auch wählen gehen. Und im Bundesschnitt sind es nur 53 Prozent Interessierte.

Stimmen diesmal also mehr als die 47,9 Prozent der wahlberechtigten Deutschen ab, die sich 2014 an die Urnen bequemten? Man weiß es nicht.

Der Prozentsatz - europaweit waren es 2014 sogar nur 43,09 - ist ein grober, aber doch starker Indikator für den Wert, der einem demokratischen Ereignis beigemessen wird. Insofern wäre es ein Desaster für das europäische Projekt, sänke die Beteiligung erneut, wie noch jedes Mal seit 1979. Trotz Trump und Brexit und all der Aufregung um Europa in den vergangenen Jahren. Trotz der stetig wachsenden Bedeutung europäischer Entscheidungen für das Leben jedes Einzelnen. Und trotz Pulse of Europe, Tu was für Europa und anderer gut gemeinter Appelle, endlich den Hintern für Europa hochzukriegen. Schließlich sei es eine "Schicksalswahl" und der 26. Mai ein "Schicksalstag", an dem die Zukunft des Kontinents auf dem Spiel stehe.

"Schicksal" führt auf die falsche Fährte

Schicksal? Der Begriff klingt zu aufgeblasen und abgegriffen, man hört ihn bei jedem Drittliga-Relegationsspiel. Und er führt auf die falsche Fährte. "Schicksal" suggeriert, jeder Einzelne könne theoretisch mit seiner Stimme etwas Grundlegendes verändern, einen echten Wechsel herbeiführen, von der einen in die andere politische Richtung. So wie bei nationalen Wahlen, wenn danach die Roten am Ruder sind statt der Schwarzen oder umgekehrt.

Das ist in Europa, leider, kaum der Fall. Im Europäischen Parlament wird es auch nach dieser Wahl im Wesentlichen so weitergehen wie bisher: Die beiden größten Fraktionen, Christdemokraten und Sozialdemokraten, werden zwar keine Mehrheit mehr bilden können, aber sie werden sich in den meisten Fällen zusammenraufen und mal Liberale, mal Grüne an Bord holen, hin und wieder auch Konservative oder Linke. Die pro-europäischen Parlamentarier sind zur Kooperation gezwungen, weil sie wissen, dass sie sich bei fast jedem Gesetz auch mit dem Rat der Mitgliedstaaten einigen müssen. Dort wird mit qualifizierter Mehrheit entschieden, das heißt, schon eine kleine Gruppe von Staaten kann alles stoppen (was oft geschieht).

Das bedeutet: Wenn sich die Abgeordneten im Parlament nicht leidlich konsensorientiert verhielten, wenn sie auf stur schalteten wie Labour im britischen House of Commons, dann ginge in der EU politisch nichts mehr voran. Das erklärt die dauerhafte informelle große Koalition in der EU. Ähnlich wie in der Schweiz, nur dass in der EU die Volksrechte fehlen, die Farbe in die eidgenössische Demokratie bringen.

Das erklärt auch, warum, wenn es um die generelle Ausrichtung der EU-Politik geht, die Europawahlen "nicht so relevant sind", wie es der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte in einem Moment entlarvender Ehrlichkeit auf den Punkt gebracht hat, und warum nationale Wahlen die EU-Politik stärker beeinflussen können. Wenn in einem oder sogar mehreren Mitgliedstaaten EU-feindliche Parteien an die Macht kommen, ist das unter dem Strich noch gefährlicher als ein Umschwung im Europaparlament.

Prantls Blick
:Der Strache-Skandal verändert den Europa-Wahlkampf

Mit diesem Rücktritt bricht der erste große Stein aus der Mauer des populistischen Extremismus in Europa. Die Publikation des Videos war daher demokratische Pflicht.

Die politische Wochenvorschau von Heribert Prantl

Es könnte sein, dass viele Bürgerinnen und Bürger diese Diskrepanz spüren: zwischen der schicksalsträchtigen Ankündigung und der profanen politischen Wirklichkeit im Europäischen Parlament. Vielleicht ist das ein wichtiger Grund, warum sie bei Europawahlen zu Hause bleiben. Nach dem Motto: Ist doch egal, ob ich mitmache, es ändert sich ja nichts.

Wirklich ändern ließe sich das, wenn man aus der EU eine "echte" europäische Demokratie nach dem in vielen Staaten üblichen Muster machte: wenn die Abgeordneten die ganze Kommission als "Regierung" wählten, die ihnen verantwortlich wäre. Und gleichzeitig der Einfluss der Mitgliedstaaten und ihre Blockademöglichkeiten begrenzt würden. Dann würde sich der Gang ins Wahllokal aus Sicht der Bürger mehr lohnen. Dass es bald dazu kommt, ist unwahrscheinlich, nicht zuletzt, weil sich die nationalen Regierungen gegen einen Machtverlust stemmen würden.

Um nicht missverstanden zu werden: Dies ist ein Versuch, die irritierende Abstinenz zu erklären, mitnichten eine Empfehlung. Denn natürlich ist die Europawahl wichtig, und keiner sollte zu Hause bleiben.

Zum einen, weil es manchmal auch im EU-Parlament sehr knapp werden kann, wie bei der Urheberrechtsreform oder bei der Abstimmung über die Einleitung des Artikel-7-Verfahrens gegen Ungarn, bei dem es um Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit geht. In solchen Fällen kommt es auf jede Stimme, somit auch jede Wählerstimme an.

Krisen sind überstanden, doch gefestigt hat sich das europäische Projekt nicht

Zweitens sollten die rechten EU-Skeptiker und -Feinde in Grenzen gehalten werden. Sie werden, trotz des Skandals bei Österreichs Freiheitlicher Partei, zu den Gewinnern dieser Wahlen zählen und kräftig zulegen, vor allem auf Kosten von Christ- und Sozialdemokraten. Wenn der Plan des Italieners Matteo Salvini aufgeht, könnte eine neu formierte Fraktion der Nationalpopulisten unter seiner Führung drittstärkste Kraft im Parlament werden. Zwar werden sich diese Mandate so schnell nicht in politische Erfolge umsetzen lassen. Aber es macht einen Unterschied, ob 70 oder 120 Abgeordnete Knüppel in den Brüsseler Betrieb werfen.

Drittens und vor allem ist es angezeigt, sich per Stimmabgabe zu dieser Union der Europäer zu bekennen. Sie hat es nötig. Die akuten Krisen sind überstanden, doch gefestigt hat sich das europäische Projekt keineswegs. Es herrscht ein tief sitzender Missmut, der das Fundament der EU genauso untergräbt wie die Turbulenzen um Euro, Migration und den Brexit. Eigentlich ist das schwer zu verstehen. Eigentlich müsste der Zweck der EU, ihr Mehrwert, jedem einleuchten.

Serie: "Wir sind Europa"
:"Europa kann nicht mehr mit Grenzen leben"

Was wird aus diesem Kontinent? Ein Besuch beim langjährigen Bürgermeister von Schengen, der um die europäische Idee kämpft - und gegen Grenzkontrollen.

Reportage von Leila Al-Serori

Wobei das Friedensargument, das auf Demonstrationen bemüht wird, gar nicht mehr das Wichtigste ist. Auch ohne die EU hätte sich ein europäischer Großkonflikt nicht wiederholt. Die Europäische Union leistet viel, viel mehr. Sie garantiert Sicherheit, Wohlstand und Rechtssicherheit, sie hat Grenzen abgebaut zwischen den Europäern und einen einzigartigen gemeinsamen Markt geschaffen. Zum Wohle eines größeren Ganzen akzeptieren die Mitgliedstaaten Einschränkungen ihrer Souveränität und freien Handlungsfähigkeit. Das ist manchen zuwider, zumal jenen, die soeben erst aus der Fremdherrschaft herausgefunden haben, aber es ist unumgänglich.

Denn viele Probleme sind auf nationaler Ebene nicht mehr lösbar. Dass der Satz so oft fällt, macht ihn nicht unwahr. Um es konkret zu machen: Wenn es die europäische Zusammenarbeit nicht gäbe, die ein Mindestmaß an rationaler gemeinsamer Koordinierung erlaubt, hätte die verstärkte Migration Richtung Europa seit 2015 vermutlich noch mehr Menschenleben gekostet und noch mehr politisches Chaos ausgelöst als jetzt schon; dann gäbe es vermutlich längst keinen Fisch mehr in den Meeren um Europa; dann wäre es auch nicht möglich, die schummelnde Automobilindustrie zu bestrafen und die Luft in den großen Städten einigermaßen sauber zu halten; oder den Internet-Giganten Paroli zu bieten.

Dann würden die Europäer in der internationalen Politik, in der das Recht des Stärkeren gilt, verzwergen und müssten sich den Regeln und Standards anderer Player unterwerfen; dann gäbe es keine Macht mehr, die auf dieser Bühne für eine kooperative, multilaterale, friedliche Ordnung streitet. Für das Gute, wie wir es verstehen. Deutschland im Besonderen ist in seiner heutigen Gestalt ohne die EU nicht zu denken, es verdankt der europäischen Integration wohl am meisten. Ohne die Einbindung in dieses politische Geflecht hätte das Land nach dem Zivilisationsbruch der Hitler-Zeit nicht zu seiner heutigen Position zurückgefunden.

Diese Vorteile liegen derart auf der Hand, dass die EU sofort gegründet werden müsste, wenn es sie nicht schon gäbe. Der frühere Diplomat und Politikwissenschaftler Eckhard Lübkemeier spricht zu Recht von "Europas Banalität des Guten". Warum findet die EU dennoch keinen Boden unter den Füßen, ja wäre fast gefallen in den jüngsten Stürmen?

Die Antwort ist nicht leicht. Sie hat wenig mit der Gurkenkrümmung zu tun. Die EU reguliert inzwischen recht gezielt und relativ sparsam. Das Problem ist, dass die Brüsseler Institutionen oft für Versäumnisse haftbar gemacht werden, die in Wahrheit die Mitgliedstaaten verantworten. Pläne für eine solidarische Asylreform liegen vor, das EU-Parlament hat sie verabschiedet. Nur die Mitgliedstaaten wollen nicht. Dass Europa nicht "sozialer" ist, ist nicht die Schuld von "Brüssel", das kaum Kompetenzen hat in dem Bereich.

Auch die mangelnde außenpolitische Schlagkraft ließe sich leicht beheben durch den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen, gegen den sich die Hauptstädte aber sperren. Selbst die Euro-Krise lässt sich kaum "der EU" in die Schuhe schieben. Sie hat mit Konstruktionsmängeln der Währungsunion zu tun, die wiederum auf unterschiedlichen währungs- und wirtschaftspolitischen Philosophien im Norden und im Süden der EU gründen.

Das größte Problem droht der EU von innen

Hinzu kommen globale Entwicklungen, die der EU zusetzen: etwa die Krise der repräsentativen Demokratie, deren Institutionen überholt wirken in Zeiten der umweglosen Teilhabe per Mausklick. Oder die Krise des globalisierten Kapitalismus: Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich schnell, die Finanzindustrie hat eine kaum zu beherrschende Dimension erreicht. Mächtigen internationalen Konzernen gelingt es, nahezu steuerfrei gigantische Profite zu erwirtschaften. All dies lässt auch die EU schwach erscheinen, zu einer Zeit, in der es geboten wäre, stärker einzugreifen: etwa um den Raubbau an der Natur und die Vernichtung unserer Lebensgrundlagen einzudämmen.

Das größte Problem droht der EU jedoch von innen: von jenen, die nicht konstruktiv kritisieren, sondern kaputt machen wollen. Wer Ungarns Premier Viktor Orbán jemals über die EU hat lästern hören, kann es kaum fassen, dass er sich noch in den Kreis der Kollegen in Brüssel traut. Aber: Die EU wird irgendwann ein Mittel finden, sich gegen solche Attacken zu wehren. Und Orbán ist nicht Ungarn.

Die EU ist Rekonvaleszent. Was sie nun braucht, ist eine Zeit der Konsolidierung. Träume von einer Europäischen Republik sind im Moment so wenig opportun wie ein radikaler Rückbau oder neue Erweiterungsrunden. Die EU braucht eine Politik der ruhigen Hand, eine behutsam pragmatische Politik, eher nach Art von Angela Merkel, ohne die sie bald auskommen werden muss. Vor allem aber braucht sie die Stimmen ihrer Bürger. Sie sind die EU.

© SZ vom 16.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusMerkel im Wortlaut
:"Gewissheiten gelten nicht mehr"

Angela Merkel spricht über die Bedeutung dieser Europawahl, den Kampf um offene Grenzen, Umweltschutz und das Erstarken des Populismus.

Von Nico Fried und Stefan Kornelius

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: