Im Mittelpunkt des ersten Besuchs des neuen Ministerpräsidenten Chinas, Li Keqiang, stehen wirtschaftliche Interessen. Der aktuelle Streit um Strafzölle der EU auf Solarzellen kommt daher ungelegen. Die EU und China liegen auch in anderen Fragen der Handelspolitik, beim EU-Waffenembargo gegenüber China und beim Thema Menschenrechte über Kreuz. Die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und China haben sich dagegen in den vergangenen Jahren prächtig entwickelt. Der Handel boomt, und für die jährlichen deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen, die bisher zweimal stattgefunden haben, reisten das halbe deutsche und chinesische Kabinett um die Welt, um sich in Berlin oder in Peking mit ihren Ministerkollegen auszutauschen.
Dass Li Keqiang auf seiner ersten offiziellen Auslandsreise innerhalb der EU nur Berlin besucht, ist somit kein Zufall. Deutschland gilt China als wichtigster europäischer Ansprechpartner. Viele in Peking sehen die Bundesrepublik längst als die neue Führungsmacht Europas. Ohne Deutschland kann die EU ihre Krise nicht überwinden. Und diese Krise in einem der wichtigsten Absatzmärkte Chinas bereitet den Machthabern der KP China erhebliche Sorgen, weil die schwächelnde Nachfrage aus Europa auch das chinesische Wachstum beeinträchtigt. Hinzu kommt, dass die Krise Europa als machtpolitischen Pol einer multipolaren Weltordnung schwächt. China hat ein Interesse an einem starken und unabhängigen Europa. Eine Welt, die allein vom Wettbewerb zwischen den zwei Supermächten China und den USA geprägt ist, ist aus chinesischer Sicht wenig erstrebenswert.
Aber es sind nicht nur geopolitische Überlegungen, die Deutschland für China attraktiv machen. Hochentwickelte Konsum- und Investitionsgüter aus deutscher Produktion erfreuen sich großer Nachfrage in China. Und auch die Idee der sozialen Marktwirtschaft sowie das deutsche Rechtssystem werden in Peking aufmerksam studiert. Deutschland gilt vielen chinesischen Politikern und Experten als ein Modell, das wertvolle Anregungen für die Modernisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in China geben kann.
Austausch ist im Interesse der deutschen und der chinesischen Bevölkerung
Auch Deutschland hat großes Interesse an guten Beziehungen zu China. Die chinesische Nachfrage nach deutschen Produkten war ein wichtiger Faktor dafür, dass Deutschland nach dem wirtschaftlichen Einbruch infolge der Lehman-Pleite so schnell wieder auf den Wachstumspfad zurückkehren konnte. Heute ist China Deutschlands drittgrößter Handelspartner. Die Unstimmigkeiten über das Treffen von Bundeskanzlerin Merkel mit dem Dalai Lama aus dem Jahre 2007 sind verflogen. Heute setzt man eher auf stille Diplomatie: Menschenrechtsfragen werden meist hinter verschlossenen Türen thematisiert.
Dass Deutschland seine Beziehungen zur neuen Weltmacht China gedeihlich gestalten möchte, ist legitim. Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Austausch sind im Interesse der deutschen und der chinesischen Bevölkerung. Aber angesichts seiner neuen herausgehobenen politischen und wirtschaftlichen Rolle in Europa sollte Deutschland über die bilaterale Zusammenarbeit hinaus mehr europäische Verantwortung in der Chinapolitik übernehmen und sich dafür einsetzen, die Beziehungen zu Peking auf eine breitere Basis zu stellen. Deutschland kann kein Interesse daran haben, dass Kritik an einem deutsch-chinesischen "Sonderweg" aufkommt.
Es ist daher höchste Zeit, die deutsche Chinapolitik stärker in einen europäischen Kontext einzubetten. Da eine gemeinsame Chinapolitik der EU bis auf Weiteres illusorisch ist, sollte Berlin zunächst auf eine engere Koordination mit seinen wichtigsten außenpolitischen Partnern Paris, London und Warschau setzen.