Demonstrationen:Experte: Zivilgesellschaft übernimmt politische Führung

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Münster (dpa) - 20 000 Gegendemonstranten in München, 30 000 in Leipzig, 19 000 in Hannover - bundesweit gehen immer mehr Menschen gegen die islamfeindliche Pegida-Bewegung auf die Straße.

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Münster (dpa) - 20 000 Gegendemonstranten in München, 30 000 in Leipzig, 19 000 in Hannover - bundesweit gehen immer mehr Menschen gegen die islamfeindliche Pegida-Bewegung auf die Straße.

Für den Politikwissenschaftler Klaus Schubert von der Universität Münster belegen die Entwicklungen ein Erstarken der Zivilgesellschaft: „Die wichtigen Dinge nehmen wir selbst in die Hand“, sagt er im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur. In der Konsequenz werde der etablierte Politikstil noch mehr an Bedeutung verlieren.

Frage: Immer mehr Menschen gehen in ganz Deutschland auf die Straße - für und gegen die Pegida. Wie erklären Sie sich das Phänomen?

Antwort: Wir müssen da unterscheiden. Der Protest wird festgemacht am Islam. Aber im Hintergrund stehen ganz andere Probleme. Natürlich ist durch die schauerlichen IS-Aktivitäten mit Steinigungen und Köpfungen etwas in unsere heile Welt geschwappt, was wir uns schon nicht mehr vorstellen konnten. Das muss erklärt werden. Wenn wir aber tiefer gehen, dann ist das Hauptproblem, dass wir Wohlstandsverlierer haben und Menschen, die zum Beispiel noch immer verunsichert sind durch die Wiedervereinigung. Da dient der Islam als Kristallisationspunkt, an dem man seinen eigenen Frust festmachen kann.

Frage: Und wie erklären Sie den Antrieb der Gegendemonstranten?

Antwort: Das zeigt, dass die Zivilgesellschaft in Deutschland funktioniert. Das hat zwar etwas lange gedauert, aber danach ist sie aufgestanden - und das nicht nur in Dresden. Die Menschen wollen zeigen: Unsere Welt ist eine andere. Und die ist es wert, verteidigt zu werden. Ich finde, das ist eine außerordentlich positive Reaktion, zumal nicht die Parteien dazu aufrufen, sondern oft sind es Bürgergesellschaften, denen zuvor das Politikinteresse abgesprochen wurde. Die Zivilgesellschaft reagiert auf die dumpfen Ängste der anderen Bevölkerungsteile.

Frage: Inwiefern tragen auch die neuen Kommunikationskanäle wie Facebook oder Twitter zur Politisierung bei?

Antwort: Natürlich erreichen die neuen Medien schneller als je zuvor die Massen. Ich weiß aber nicht, ob Politisierung der richtige Begriff ist. Es ist eine Gegenreaktion der Zivilgesellschaft, die der Pegida nicht die Hoheit über die Stammtische und die öffentliche Meinung überlassen will. Die wesentlichen Träger des Protestes gegen Pegida sind ja nicht die Parteien, sind nicht mal die Kirchen. Sondern die Bürgergesellschaft reagiert.

Frage: Und was ist daran neu?

Antwort: Früher haben wir uns auf Parteien und das Parteiensystem verlassen. Jetzt haben wir einen Bereich, der amorpher ist. Wie weit diese Entwicklung gediehen ist, zeigt sich an der Kundgebung in Berlin (am Dienstag). Die Veranstaltung ist vom Zentralrat der Muslime in Deutschland initiiert worden. Und was wird daraus? Der Bundespräsident spricht und die Bundesregierung nimmt teil. Hier dreht sich gerade etwas um. Das bürgerschaftliche Engagement übernimmt die Führung und gibt der Politik eine Bühne. Das hätte man anders erwartet. Von oben nach unten und nicht von unten nach oben. Die Aussage dahinter ist: Die wichtigen Dinge nehmen wir selbst in die Hand.

Frage: Was bedeutet das für die Parteien?

Antwort: Die Parteien müssen etwas von ihrer Kompetenz abgeben. Der etablierte Politikstil wird noch mehr an Bedeutung verlieren. Wie oft es solche Massenveranstaltungen geben wird, wage ich nicht zu sagen. Aber in der kommunalen und regionalen Politik wird man es sicher häufiger erleben.

Frage: Die Zahl der Gegendemonstranten steigt steil an. Inwiefern ist Stuttgart 21 ein Startpunkt für diese neue Form der Partizipation?

Antwort: Ich sehe da eine gewisse Kette. Es gibt nicht nur bei Pegida, sondern auch bei dem demokratisch orientierten Teil der Bevölkerung eine latente Schwierigkeit mit der etablierten Politik. Hier sehe ich im Kern eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen Pegida und der Anti-Pegida-Bewegung.

Frage: Ein Ende der Demonstrationswelle ist nicht in Sicht. Wird bald ein Ermüdungsprozess einsetzen?

Antwort: Es wird sicher irgendwann ein Höhepunkt erreicht werden, und dann wird das Interesse an den Kundgebungen abflachen. Aber das wird nicht morgen sein.

ZUR PERSON: Klaus Schubert ist seit 2002 Professor für Deutsche Politik und Politikfeldanalyse an der Universität Münster. Bis 2012 arbeitete er auch am Exzellenzcluster „Der Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland: Politisches Steuerungsinstrument oder Weg zur Integration?“ als Leiter mit. Schubert hat viele Publikationen zum Thema Politik und Islam in Deutschland veröffentlicht.

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