Demokratie:Die irrationalen Wünsche der Wähler

Lesezeit: 4 min

Wunschdenken hat beim Brexit-Refendum eine große Rolle gespielt. (Foto: AP)

Beim Brexit geht es angeblich um die Frage des Austritt oder Verbleibs in der EU. Aber stimmt das denn? Oder geht es eigentlich darum, überhaupt anerkannt zu werden als jemand, dessen Wünsche zählen?

Von Carolin Emcke

Zu meinen Lieblingsbeschäftigungen vor Weihnachten gehört es, im Freundeskreis herumzufragen, was deren Kinder sich so wünschen. Mein Favorit dieses Jahr war die Tochter eines Freundes, der seinen Kindern im Verlauf des Jahres jedes Buch schenkt, das sie sich wünschen. Was naheliegenderweise dazu führt, dass sie zu Weihnachten kein Buch wollen, sondern auf Platz eins der Wunschliste "ein Fernseher" steht. Nun kennen Kinder meist ihre Eltern besser als die denken, weswegen ich vermute, dass auch die Tochter, die in einem Haushalt mit striktem Fernsehverbot aufwächst, nicht wirklich glaubt, dass dieser Wunsch sich materialisieren wird.

Der Wunsch ist insofern eher dezentes Zeichen sich anbahnender Dissidenz als naive Hoffnung auf das verbotene Objekt.

Noch besser gefällt mir aber, was die Tochter danach schreibt. An zweiter Stelle wünsche sie sich eine "echte Schildkröte". Mal abgesehen davon, dass mir eine Schildkröte das perfekte Tier zu sein scheint für eine Familie, die offensichtlich eher der entschleunigten Form der Kontemplation zugeneigt ist, begeistert mich die weitsichtige Präzision: Eine "echte" Schildkröte soll her. Keine aus Stoff oder Plastik. Sondern eben eine "echte", lebendige Schildkröte. Das clevere Kind hat herausgefunden, dass sich Enttäuschungen potenziell vermeiden lassen, wenn Wünsche möglichst qualifiziert formuliert werden.

Warum mich das begeistert? Weil spätestens seit dem Brexit-Chaos deutlich geworden ist, was unpräzises Wünschen anrichten kann. Wie konnte nur jemand auf die Idee kommen, die Optionen des Referendums derart unterbestimmt zu lassen. Den "Brexit" ohne weitere Eigenschaften als politisches Desiderat zu behaupten, war als "Wahl" irgendwo zwischen grotesk und gemein. Als ob es irrelevant wäre, welche Form der Ausstieg aus der EU annehmen würde. Als ob das Kind nur "Tier" auf den Wunschzettel geschrieben und damit alle Varianten von der Spinne bis zum Hängebauchschwein gleichermaßen beglückt entgegengenommen hätte.

Am Ende dieses Jahres erscheint tatsächlich nichts dringlicher, als über das Rätsel des Wünschens in demokratischen Gesellschaften nachzudenken. Ich fürchte, dass wir kaum etwas weniger verstanden haben als die Art und Weise wie sich politische, soziale Sehnsüchte in der Gegenwart formulieren und wie sie sich deuten lassen. Inwiefern Wünsche ihre eigenen Motive und Absichten wirklich mit sich führen - das ist schmerzlich unklar. Nichts hat mich skeptischer gemacht als die interpretatorische Willkür, mit der ich Gruppen oder Bewegungen bestimmte Wünsche entweder eins zu eins abnehme oder sie infrage stelle und umdeute.

Vielen geht es nur darum, überhaupt anerkannt zu werden als jemand, der wünschen kann

Das erste Mal tauchten diese Zweifel nach der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten auf, als sich Analysen häuften, die mit ungeheurem Eifer nach Motiven für das Wahlverhalten der Trump-Anhänger suchten, die alles sein durften nur nicht irrational oder rassistisch. Die Wahl sollte Sinn ergeben, sollte Wünsche, die vorher übersehen oder vernachlässigt wurden, jetzt sichtbar machen, sollte irgendwie durch vernünftige, soziale Interessen geleitet sein.

Umgekehrt wurde den sozialen Protesten der Gelbwesten in Frankreich ein politisches Begehren vielfach abgesprochen, als ob sich nicht als rationale Bewegung formieren könne, was sich keiner homogenen Klasse zuschreiben lässt, als ob keine Bedürfnisse artikulieren könne, was keine zentrale Struktur hat. Die Äußerungen der Gelbwesten wurden leichtfertig abgewertet, als ob es keine relevante Absicht sein könne, in der politischen Öffentlichkeit schlicht die existenzielle Not und die eigene Trauer zu artikulieren.

Im New York Review of Books erzählt die Labour-Abgeordnete Lisa Nandy, wie tief der Slogan von der Wiederlangung "der Kontrolle" während der Brexit-Kampagne die Menschen ihres Wahlkreises in Ost-England berührt habe. Beim Besuch einer Nissan-Fabrik in Sunderland hatte Nandy den Arbeiterinnen und Arbeitern erläutert, dass in dieser Gegend eben solche Arbeitsplätze in der Autoindustrie wie die ihren bei einem Austritt aus der EU verschwinden würden. Als sie ihnen vorrechnete, wie fatal sie direkt betroffen wären und was sie verlieren würden, stand ein Arbeiter auf und sagte, sie wüssten das - und sie würden trotzdem für einen Austritt stimmen. Lisa Nandy schreibt, wie sie in diesem Moment etwas über die Rationalität von politischen Wünschen begriff: "Dies war eine zutiefst vernünftige Entscheidung, denn er war bereit, einen ökonomischen Vorzug gegen Macht einzutauschen."

Es gibt einen naheliegenden Einwand gegen diese Lesart: Wie machtvoll ist denn eine Entscheidung, die die eigene Ohnmacht letztlich vergrößert? Wie rational ist es, sich gegen die soziale Isolation in strukturschwachen Regionen, gegen britische oder europäische Austeritätspolitik, gegen die Aushöhlung sozialer Sicherungssysteme wehren zu wollen mit einem Votum, das all diese Zustände nur verschlimmert? Trotzdem verweist die Geschichte aus Sunderland auf die zentrale demokratische Frage, die wir uns stellen müssen: Wenn es womöglich nicht um den Inhalt der politischen Wünsche, wenn es nicht um das Objekt des Begehrens (weniger Migranten, eigene Währung, geschlossene Grenzen) geht, sondern darum, überhaupt anerkannt zu werden als jemand, der wünschen kann - was muss dann verändert werden? Wenn es gar nicht um ein konkretes Gesetz, eine bestimmte Steuer, eine Mitgliedschaft in einer internationalen Ordnung geht, sondern um die soziale Infrastruktur in unserer Gesellschaft, die dermaßen privatisiert oder dereguliert wurde, dass Menschen sich schlicht nicht mehr als Subjekte einer Gemeinschaft fühlen - wie dramatisch ist dann dieses Votum?

Es mag ein zweites Referendum nötig sein, damit die Menschen im Vereinigten Königreich eine qualifizierte Wahl haben und sich entscheiden können, ob sie nach allem, was sie nun wissen, einen Abschied von der EU wirklich wollen. "Kriechtier" allein reicht nicht als Option. Ob dann am Ende doch ein Verbleib in der EU steht oder nicht - der Wunsch, mehr beteiligt und wahrgenommen zu werden als Bürger, deren Wünsche zählen, dieser Wunsch sollte die eigentliche Aufgabe sein.

© SZ vom 22.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: