Debatte zu Ukraine-Krise:Wessen Blut auf wessen Boden?

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Russlands Präsident Putin: In der deutschen Debatte wird ihm auch Verständnis entgegengebracht. Zu Unrecht, so der Historiker Thomas Snyder. (Foto: Bloomberg)

Wer Verständnis für Russlands Vorgehen in der Ukraine äußert, missachtet historische Fakten, sagt Timothy Snyder. Der Historiker liefert wichtige Anmerkungen, die in der deutschen Debatte zu kurz kommen. Snyder sagt: Die EU hat in dieser Krise ihre Unschuld verloren.

Von Jens Bisky

Es ist Mode geworden, Verständnis für Putin zu äußern. Da es die Sowjetunion nicht mehr gibt und Polen Mitglied der Nato werden wollte und die Krim für die russische Seele so wichtig ist, blieb ihm doch gar nichts anderes, als sich einen Dreck um Verträge zu scheren und mit dem Recht des Stärkeren Grenzen zu korrigieren.

Und wenn in der Ukraine Nationalisten wie Symon Petljura oder Stepan Bandera geehrt werden, wenn in Kiew die antisemitische Krawalltruppe "Swoboda" Minister stellt, muss Putin doch die Russen in der Ukraine schützen.

Was an den verständnisvollen Äußerungen am meisten nervt, ist der halb-aufgeklärte Umgang mit Geschichte. Deren Gespenster werden beschworen, um sie als Argumente zu gebrauchen. Aber die Verständnisinnigkeit steht dem Verstehen im Wege.

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Es hilft, sich bei jedem Satz über die Krim-Krise und die ukrainische Revolution zu fragen, wie er in Warschau, Kiew, Riga und Tiflis klingen mag. Analogien zum Kalten Krieg verwirren schon deshalb, weil es heute selbstbewusste Akteure gibt, die unter der Breschnew-Doktrin nicht vorgesehen waren: eben jene Staaten Osteuropas, für die das Ende der Sowjetunion den Anfang ihrer freien Existenz bedeutete.

Bereitwillige Annahme der Ideologie

Geschichte als Argument? Es muss skeptisch stimmen, dass die russische Propaganda ihre stärkste Waffe entsichert hat: den Antifaschismus. Die ukrainische Revolution sei ein faschistischer Putsch, dagegen jede Maßnahme gerechtfertigt.

Wer im sowjetischen Machtbereich groß geworden ist, kann sich nur wundern, wie bereitwillig das ideologische Angebot angenommen wurde, mit Putin auf der Seite der "Antifaschisten" zu stehen. Es scheint vergessen, dass auch 1990 vor dem Erstarken der Rechtsextremen in der DDR gewarnt wurde, und sie machten in der Tat mobil bis zu den Überfällen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen. Aber lag darin das entscheidende Moment der ostdeutschen Revolution?

In der vergangenen Woche sprach der Historiker Timothy Snyder auf Einladung des Bard College Berlin und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde in Berlin über die Geschichte der Ukraine zwischen sowjetischer Vergangenheit und möglicher europäischer Zukunft.

Snyder lehrt an der Yale University. Er hat über die Geschichte der Nationen und des Nationalismus in Polen, der Ukraine und Litauen geschrieben, 2011 erschien auf Deutsch seine kühne Synthese "Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin" (Verlag C.H. Beck). Wem die Engherzigkeit der deutschen Debatten auf die Nerven geht, lese Snyders Blog für die New York Review of Books.

Ukrainischer Nationalismus war Elitenprojekt

In Berlin warnte er davor, allein auf die Swoboda-Leute zu schauen und dabei Wesentliches zu übersehen. Selbstverständlich sei es in revolutionären Zeiten geboten, die Akteure der extremen Rechten aufmerksam zu verfolgen. Umfragen geben ihnen in der Ukraine kaum mehr als fünf Prozent der Stimmen. Wie viel Prozent haben noch mal Front National und FPÖ?

Merkwürdig auch der "Antifaschist" Wladimir Putin: Er regiert autokratisch, legitimiert seine Politik ethnisch - Schutz der Russen - und agiert imperialistisch. Die Ukrainer haben bisher vergleichsweise - man denke an Großbritannien nach Besetzung der Falkland-Inseln - zurückhaltend auf die Annexion der Krim erinnert. Zwar greift Julia Timoschenko nationalistische Stimmungen auf, aber noch sieht es so aus, als könne ein rascher Übergang zu einer halbwegs stabilen Situation mit garantiertem Gewaltmonopol gelingen.

Kurz und pointiert rekapitulierte Snyder die Geschichte des ukrainischen Nationalismus. Er entstand, ein Import aus dem Westen, im 19. Jahrhundert, ein Elitenprojekt mit starker Rücksicht aufs Literarische.

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Der Erste Weltkrieg geht in der Ukraine in einen Bürgerkrieg über, ständig wechseln die Regierungen, lokale Machthaber - heute würde man von Warlords reden - spielen ebenso eine Rolle wie die Herrschaftsfantasien der Deutschen, der Kampf der Polen, die gerade einen Nationalstaat etablieren, gegen die Bolschewiken. Die Parteien lassen sich oft nicht nach "rot" oder "weiß" sortieren. Es gewinnen die Bolschewiken, die Ukraine profitiert von einer Art "soviet affirmative action" - der Förderung nationaler Kultur.

"Imperialismus mittels Märtyrertum"

Die Eliten, die davon profitierten, werden im Zuge der Kollektivierung und der Säuberungen weitgehend eliminiert. Die Sowjetmacht führt ihr Modernisierungsprogramm durch - Industrialisierung, Kollektivierung, Sklavenarbeit. Etwa 3,3 Millionen Menschen verhungern Anfang der Dreißigerjahre in der Ukraine. Um darüber nicht zu reden, wird die Schuld Agenten, Spionen des polnischen Geheimdienstes oder Nazi-Deutschlands zugesprochen.

Im Zweiten Weltkrieg hat die Ukraine das Unglück, im Mittelpunkt konkurrierender Kolonialisierungspläne zu stehen, eines deutschen und eines sowjetischen. Die Front rollt mehrfach über das Land.

Im Kampf gegen die Wehrmacht fallen mehr Ukrainer als Amerikaner, Franzosen und Russen. In der Erinnerung aber dominieren die Kollaborateure. Der Krieg fand überwiegend auf weißrussischem und ukrainischem Gebiet statt, hier zahlte die Zivilbevölkerung den höchsten Blutzoll. Aber die toten Weißrussen, Juden und Ukrainer wurden und werden als Russen gezählt. Das sei ein "Imperialismus mittels Märtyrertum", heißt es in einem Aufsatz Snyders, durch die Vereinnahmung der Opfer werden stillschweigend auch deren Gebiete in Anspruch genommen.

Polen akzeptierte Grenze 1989 sofort

Die Opfer des Holocaust wurden in der sowjetischen Erinnerung lange verdrängt, sie kamen immer dann vor, wenn es galt, ukrainische oder lettische Kollaborateure zu brandmarken. Die Gewalt gegen die Juden habe, heißt es in "Bloodlands" dazu gedient, die Deutschen und die nichtjüdische Bevölkerung enger aneinander zu binden. Sie erlaubte es auch jenen, die mit dem Sowjetregime zusammengearbeitet hatten, sich von diesem Makel zu reinigen.

Die "psychische Nazifizierung" fiel leichter durch die Spuren sowjetischer Gräueltaten, Leichenberge in NKWD-Gefängnissen etwa. Die Pogrome, so Snyder, fanden dort statt, wo die Rote Armee kurz vorher einmarschiert war , "wo in den Monaten zuvor sowjetische Zwangsorgane Inhaftierungen, Hinrichtungen und Deportationen organisiert hatten. Sie waren eine gemeinsame Produktion, die NS-Ausgabe eines sowjetischen Texts."

Ukrainische Nationalisten stellten keineswegs die Mehrheit der Kollaborateure. Propaganda fragmentiert die jahrzehntelange, blutige Geschichte der Territorien, auf denen Stalin und Hitler mit- und gegeneinander fochten.

Ein entscheidendes Datum der europäischen Friedensgeschichte wird dabei völlig vergessen. Das nach 1989 endlich unabhängige Polen hat seine Ostgrenze unverzüglich akzeptiert, obwohl historisch, politisch, kulturgeschichtlich lange darüber hätte gestritten werden können. Die ukrainischen Nationalisten standen dadurch in einer historisch neuen Situation: Ein Gegner war weggefallen, sie hatten es nur noch mit Russland zu tun.

"Eurasia" gegen "Gayropa"

Putins Politik stellt Snyder unter die Formel "Eurasia", ökonomisch gedacht als Projekt der Zusammenarbeit zwischen Russland, Kasachstan, Weißrussland und der Ukraine, politisch entworfen als Dikatoren-Club, ideologisch ein Projekt gegen die Europäische Union. Sie stehe für einen dekadenten Kontinent, für "Gayropa".

Allerdings sei Putins Ukraine-Politik desaströs gescheitert. Er zahlte Milliarden und konnte doch Janukowitsch nicht halten, den Oligarchen, der nicht länger einer unter mehreren, sondern der einzige und mächtigste Oligarch sein wollte. Die Proteste gegen ihn begannen nicht im Zeichen des Nationalismus, es ging um schlichte Dinge wie Würde, Rechtsstaatlichkeit, Verfahrenssicherheit, "rule of law".

Da es Putin nicht gelang, der Ukraine seinen Willen aufzuzwingen, blieb ihm nur, sie zu destabilisieren und durch Eskalationspolitik von seinem Scheitern abzulenken.

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Die Europäische Union, so Snyder, habe nun ihre Unschuld verloren. Der Glaube, es könne doch niemand etwas gegen die EU haben, weil "wir" doch die Guten seien, habe sich erledigt. Wenn dies stimmt, dann wird man die vielen verständnisvollen Äußerungen für Putin als Ausweichbewegungen verstehen müssen. Sie erlauben es, Putins Politik nicht so zu verstehen, wie sie gemeint ist, als Feinderklärung an die EU. Auch das könnte sein Gutes haben.

Eine Eskalation kann keiner wünschen, weil in ihr nichts zu gewinnen ist. Das größte Unglück für den Aggressor wäre eine stabile, demokratische Ukraine. Das wird viel Geld kosten und Geduld mit einer revolutionären Entwicklung, die nicht so friedlich und überschaubar verläuft wie die in der DDR 1989/90. Ob die EU zu einer wirklichen Hilfe in der Lage ist? Ob sie das will?

© SZ vom 31.03.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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