Debatte über Gesundheitsreform:Patriotisches Twittern

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"Durchweg bösartig": Die USA haben das britische Gesundheitssystem als abschreckendes Beispiel entdeckt. Premier Gordon Brown reagiert - mit Liebesbekundungen im Internet.

Wolfgang Koydl, London

Viel ist es nicht mehr, auf das Briten vorbehaltlos stolz sein können, seitdem selbst Königshaus, Cricket und die Kreditwirtschaft nicht mehr sind, was sie waren. Nur auf eine Institution lässt man im Königreich nichts kommen: Der staatliche Gesundheitsdienst National Health Service (NHS), der jedermann kostenlose Behandlung und Pflege garantiert, ist über Kritik erhaben. In ihm lebten, wie die Times schrieb, uralte britische Charaktereigenschaften wie Anstand, Fairness und Mitgefühl fort.

Der britische Regierungschef Gordon Brown verteidigt den staatlichen Gesundheitsdienst NHS via Twitter. (Foto: Foto: AFP)

Mit einer Mischung aus Ärger und Überraschung mussten die Briten nun zur Kenntnis nehmen, dass ihr NHS in die Debatte über die Gesundheitsreform in den USA gezogen wurde - als abschreckendes Beispiel für ein "sozialistisches" System, in dem angeblich gesichtslose Bürokraten entscheiden, welche Bürger ein Recht auf Behandlung oder gar auf ein Weiterleben hätten.

In der Tat fühlen sich manche Amerikaner beim Blick auf Wartelisten in britischen Kliniken an eine Horrorvision Orwellschen Zuschnitts erinnert; Sarah Palin, Polit-Playmate der US-Rechten, stempelte den NHS als "durchweg bösartig" ab, und vielen ihrer Landsleute genügt ein Blick auf den oft betrüblichen Zustand britischer Gebisse, um ihr Urteil zu fällen: Das ist nichts für uns.

"Danke, dass du immer für uns da bist"

Derart giftig war die Kritik, dass Gordon Brown im Urlaub aufgeschreckt wurde. Auf Twitter - wo es inzwischen eine Kampagne zur Verteidigung des NHS gibt - schöpfte er die vollen zur Verfügung stehenden 140 Zeichen aus: "Der NHS ist oft der Unterschied zwischen Schmerz und Wohlbefinden, Verzweiflung und Hoffnung, Leben und Tod", twitterte der britische Regierungschef. Und ein wenig atemlos schloss er: "Danke, dass du immer für uns da bist."

Angesichts der breiten Sympathie, welche die staatliche Gesundheitsvorsorge im Land genießt, konnte auch Oppositionschef David Cameron nicht zurückstehen. Seine Konservativen seien "die Partei des NHS", beteuerte er. Wenn er - was allgemein erwartet wird - die nächste Regierung bilden werde, dann wäre es "Mission Nummer eins", das System noch mehr zu verbessern: "Wir sind alle stolz auf unseren NHS", schwor Cameron.

Da dürfte er ein wenig übertrieben haben. Denn zu Camerons großem Verdruss war da bereits der Tory-Europaabgeordnete Daniel Hannan im erzkonservativen amerikanischen Nachrichtensender Fox aufgetreten - als Kronzeuge gegen das britische System. Der in den Nachkriegsjahren ins Leben gerufene NHS sei ein "sechzig Jahre alter Fehler", den er seinem ärgsten Feind "nicht wünschen" möchte, hetzte Hannan.

Cameron tat den Parteifreund zwar flugs als "Exzentriker" ab, aber er konnte nicht verhindern, dass die Zukunft des staatlichen Gesundheitswesens plötzlich zum heißen Thema in Britannien geworden ist - weniger als ein Jahr vor den nächsten Wahlen. Brown, der in Umfragen weit hinter Cameron liegt, hat bereits die Gunst der Stunde erkannt und angekündigt, dass seine Labour-Partei den NHS zum Wahlkampfthema machen werde. Denn die Bemerkungen Hannans, so Brown, zeigten das wahre Gesicht der Torys, die kaltschnäuzige US-Methoden einführen würden.

Das freilich stimmt genauso wenig wie die Schreckensbilder von NHS-Todeskommissionen, die angeblich über Leben und Sterben von Patienten entscheiden. Am besten wäre es, so die Sunday Times, wenn Amerikaner und Briten anderswo nach Vorbildern suchen würden - etwa auf dem europäischen Festland.

© SZ vom 17.08.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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