DDR:Es ist Zeit für die Aufarbeitung der Aufarbeitung

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Demonstranten stürmen am 15. Januar 1990 die Zentrale der Staatssicherheit der DDR in Berlin. (Foto: Jockel Finck/AP)

Vor 30 Jahren wurde die Stasi-Zentrale in Berlin gestürmt. Die Öffnung der Akten war mutig und richtig, aber sie hat auch den Blick auf das Funktionieren der Diktatur verengt.

Kommentar von Georg Mascolo

Ab ins Feuer oder für immer vergraben unter einem Berg von Beton: Weg, schnell weg damit, so lauteten die ersten Überlegungen der westdeutschen Bundesregierung, wie man mit den Stasi-Akten umgehen solle. Die Bürgerrechtler hatten am 15. Januar 1990 die Stasi-Zentrale in Berlin gestürmt, um die Dossiers zu sichern. Doch dann erlebten sie, dass nicht nur die Stasi-Offiziere das Ganze am liebsten beseitigen wollten, sondern dass auch Bundeskanzler Helmut Kohl und Innenminister Wolfgang Schäuble das giftigste Erbe der DDR vernichten oder zumindest weggesperrt haben wollten.

30 Jahre liegt der Sturm auf die Stasi nun zurück, und bekanntlich kam es nach dem Finale dieser deutschen Revolution ganz anders. Die Akten wurden gesichert, zum ersten Mal in der Politikgeschichte wurde später per Gesetz das komplette Archiv einer Geheimpolizei offengelegt. Opfer dürfen bis heute ihre Akten einsehen und Wissenschaftler die Mechanismen der Unterdrückung erforschen. Aus aller Welt reisen bis heute Abordnungen zu der eigens geschaffenen Stasi-Unterlagenbehörde und suchen Rat, wie man mit den schriftlichen Hinterlassenschaften einer Diktatur umgehen kann.

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All dies ist nicht nur ein faszinierendes Stück Zeitgeschichte, übrigens eines, auf das man stolz sein kann. Es hält auch bedeutende und gültige Lehren bereit, an die es lohnt zu erinnern. So widerlegt der Streit um die Stasi-Akten das heute gern bemühte Narrativ, dass der Westen dem Osten in allen Bereichen seine Regeln und Vorstellungen aufgezwungen habe. Ja, das stimmte zu oft, aber in der entscheidenden Frage des Umgangs mit der Vergangenheit war es genau andersherum. Der Westen setzte - aus Angst vor Mord und Totschlag - eher auf Verdrängung. Die Ostdeutschen wehrten sich, zunächst in der einzigen frei gewählten Volkskammer. Schließlich besetzten Angehörige der DDR-Bürgerbewegung unmittelbar vor der deutschen Einheit die ehemalige Stasi-Zentrale. Vor allem die Bürgerbewegung ertrotzte sich von Bonn den freien Zugang zu den Akten. Es ist eines ihrer großen und bleibenden Verdienste.

Bei der Wahl der Beauftragten für die Stasi-Unterlagen hatte der Bundestag eine gute Hand

Diese Ereignisse beweisen auch, dass es immer richtig und notwendig ist, sich der Vergangenheit zu stellen. Die Kohl-Regierung fürchtete, dass die Gepeinigten nach dem Lesen der Akten auf ihre Peiniger losgehen könnten. Inzwischen haben mehr als 3,3 Millionen Bürgerinnen und Bürger ihre Akten gelesen, und es ist kein einziger solcher Fall bekannt. Und ja, die Stasi-Akten erzählen von schrecklicher Niedertracht, von Menschen, die als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) Freunde und manchmal die eigene Familie verrieten. Aber etliche dieser Dossiers erzählen auch von Mut und Zivilcourage, sie erzählen von denen, die sich weigerten zu spitzeln. Viele taten dies, indem sie behaupteten, zu geschwätzig zu sein und die von der Stasi verlangte Geheimhaltung nicht einhalten zu können. Angela Merkel etwa sagt von sich, dass sie sich mit diesem Trick dem Werben der Stasi entzogen habe.

Dass die Aufarbeitung hier so gut gelang, liegt auch an den Beauftragten für die Stasi-Unterlagen. Stets hatte der Bundestag bei deren Wahl eine gute Hand. Heute ist es der frühere Bürgerrechtler Roland Jahn, der die Besetzung der Stasi-Zentrale mit dem Sturm auf die Bastille vergleicht. Der erste Beauftragte hieß Joachim Gauck und war schon in der frei gewählten DDR-Volkskammer der Mann für die Akten. Dabei wollte er mit dem Thema eigentlich nichts zu tun haben, aber für den Ausschuss Deutsche Einheit war er nicht prominent genug.

Die SED kam weitgehend ungeschoren davon

Bis heute geben die Akten Spektakuläres preis, so wie zuletzt über den neuen Verleger der Berliner Zeitung, Holger Friedrich. Als junger Soldat spitzelte er für die Stasi. In den ersten Jahren nach der Öffnung der Archive wäre er in dieser Position wohl unhaltbar gewesen. Eine IM-Registrierung reichte oft für das Ende der Karriere. Heute ist der Blick differenzierter, abwägender, verständiger für die Zwänge des Lebens in der Diktatur. Friedrichs Argumente - er habe nur unter Druck und nur kurz kooperiert und sei ansonsten ein Opfer der Stasi - werden gehört. Das ist gut so. Wie verstrickt Friedrich tatsächlich war, ist noch nicht abschließend geklärt und sollte geklärt werden. Schon weil er den Fehler machte, seine Vergangenheit zu verschweigen. Aber die Ruhe, in der solche Debatten in diesen Tagen verlaufen, unterscheidet sich wohltuend von den manchmal zu scharfen Urteilen der ersten Jahre.

Das ist eine gute Voraussetzung, um zurückzublicken und mit der Aufarbeitung der Aufarbeitung zu beginnen. Die Öffnung der Akten war mutig und richtig, aber sie hat auch den Blick auf das Funktionieren dieser Diktatur verengt. Man musste kein Stasi-IM sein, um Schuld auf sich zu laden. Die SED kam weitgehend ungeschoren davon. Aus wahltaktischen Gründen verleibte sich die Kohl-CDU die komplette Ost-CDU, eine Blockpartei, ein. 30 Jahre nach dem Sturm auf die Stasi-Zentrale lohnt nun ein zweiter Blick.

© SZ vom 14.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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