Es war der längste Tag - so wurde er bereits damals rasch genannt. Doch nach diesem längsten Tag sollte es geschafft sein: Das Tor zur Befreiung Frankreichs offen. Paris nicht mehr weit. Und dann auf nach Berlin. So war der Plan der Alliierten, als sie vor 70 Jahren in der Normandie landeten. Und so hat es sich auch in der kollektiven Erinnerung niedergeschlagen, ob in Schulbüchern, Filmen oder Romanen. Doch aus dem Plan wurde nicht so bald Realität - und eben dies geriet zunehmend in Vergessenheit.
Erst jüngere militärgeschichtliche Studien wie die des britischen Historikers Antony Beevor aus dem Jahr 2010 ("D-Day. Die Schlacht um die Normandie", C. Bertelsmann) oder Peter Liebs im Februar erschienener Band "Unternehmen Overlord. Die Invasion in der Normandie und die Befreiung Westeuropas" (C. H. Beck) rufen die großen Probleme, Herausforderungen und Rückschläge der Alliierten in Erinnerung, die auf den D-Day folgten.
Die Hälfte der amerikanischen Fallschirmjäger verfehlte ihre Landezone
Es begann bereits mit den Luftlandungen im Hinterland der Strände in der Nacht vom 5. auf den 6. Juni 1944. Die britischen Fallschirmjäger gingen zu verstreut nieder. Ein Bataillon verteilte sich über 300 Quadratkilometer anstatt über die geplanten zwei. Viele Missionen konnten nur durch Eigeninitiative und Kampfmoral der Verstreuten dennoch erfüllt werden.
Ebenso verhielt es sich bei den Amerikanern, die in noch größere Schwierigkeiten als die Briten gerieten: Die Hälfte der amerikanischen Fallschirmjäger verfehlte ihre Landezone. Ihre mit Fallschirmen abgeworfenen Geschütze wurden beim Aufprall auf dem Boden zerstört. Die 82. und 101. Airborne Division, in den letzten Jahren auch im deutschen Fernsehen bekannt geworden durch die US-Serie "Band of Brothers", gerieten dermaßen in Bedrängnis durch deutsche Gegenangriffe, dass allein der rasche Vormarsch der am "Utah Beach" gelandeten amerikanischen Infanteriedivision ein völliges Desaster verhinderte. Entsprechend hoch waren die Verluste der alliierten Fallschschirmjäger - alleine am D-Day schätzungsweise 6000 Tote, Verwundete, Gefangene und Vermisste.
Für die Landung von See her hatten die alliierten Truppen zwar an der englischen Küste geübt. Aber über Erfahrung mit amphibischen Operationen verfügten nur wenige am D-Day eingesetzte Einheiten. Die meisten Amerikaner erlebten ihre "Feuertaufe" erst am 6. Juni 1944 - einschließlich fast aller Divisionskommandeure und zum Teil sogar der kommandierenden Generäle der übergeordneten Korps.
Obwohl die Amerikaner damals bereits seit gut zweieinhalb Jahren gegen die Japaner kämpften, fanden die Erfahrungen aus den zahlreichen Landungen auf stark verteidigten Pazifikinseln kaum Beachtung bei den Planungen für den D-Day. Auch gab es bei den US-Streitkräften - anders als bei der Wehrmacht mit ihren Fronten im Osten, Süden und Westen - nur wenig Personalaustausch zwischen den Kriegsschauplätzen in Europa und im Pazifik.
Diese mangelnde Erfahrung auf alliierter Seite sollte bereits am D-Day selbst zu unnötig hohen Verlusten vor allem der Amerikaner führen. Am "Omaha Beach" verfehlten der Beschuss von See und die Bombardierung aus der Luft die deutschen Verteidigungsanlagen. Es rächte sich auch bitter, dass die Stärke des Wellengangs unterschätzt wurde: Beinahe sämtliche Schwimmpanzer gingen unter, bevor sie den Strand erreicht hatten. Die an Land watenden GIs waren entsprechend ungeschützt.
Tausende wurden von den Deutschen getötet, kaum waren die Bugrampen der Landungsboote heruntergefallen. Steven Spielberg hat dieses Gemetzel in der Eingangsszene seines Films "Saving Private Ryan" 1998 einem breiteren Publikum bekannt gemacht.
Taktische Stärke der Wehrmacht, bedachtes Vorgehen der Alliierten
Auch in den anderen Strandabschnitten, bei Briten und Kanadiern, verliefen die Operationen nirgendwo vollkommen nach Plan. Zwar konnte Hitlers "Atlantikwall" noch am Vormittag des 6. Juni 1944 durchbrochen werden, aber das Tagesziel, rund 20 Kilometer ins Inland vorzustoßen, wurde nicht erreicht. Als Ursache dafür macht Peter Lieb zwei Konstanten aus, die sich bereits am D-Day, dem vermeintlichen "Decision Day", zeigten und die nun erst beginnende Schlacht um die Normandie prägen sollten: zum einen die taktische Stärke der Wehrmacht, mit zusammengewürfelten Resttruppenteilen praktisch aus dem Nichts kleine schlagkräftige Kampfgruppen zu bilden, die das alliierte Vorrücken geschickt verzögerten; zum anderen das auf Vorsicht und Sicherheit bedachte Vorgehen der Alliierten.
Hinzu kam die waffentechnische Unterlegenheit von Amerikanern und Briten in zentralen Bereichen des Landkrieges. Schon im August 1943 hatte Bernard Montgomery, Oberbefehlshaber der alliierten Heereseinheiten in den ersten Wochen der Normandieschlacht und Sieger über Rommel bei El Alamein, der ihm nun wieder gegenüberstand, selbst eingeräumt: "Die Deutschen haben uns in der Panzerentwicklung überholt, besonders hinsichtlich der Geschütze."
Und in der Tat konnte die bei den alliierten Soldaten gefürchtete 88-Millimeter-Kanone, die sowohl im deutschen Tiger-Panzer als auch als ursprünglich konzipierte Flugabwehrkanone zur Panzerabwehr eingesetzt wurde, im Sommer 1944 jedes gepanzerte Fahrzeug von Amerikanern, Briten und Kanadiern ausschalten, bevor diese überhaupt in Schussweite kamen.
In einem abgeschossenen britischen Panzer fand man wenige Tage nach dem D-Day das Tagebuch eines Offiziers. In einem seiner letzten Einträge schrieb er klagend: "Unsere Kompanie fuhr aus, um eine Position einzunehmen, musste sich aber rasch wieder zurückziehen und verlor dabei vier Panzer. Warum ist unsere Technik nach vier Jahren Vorbereitung auf diese Invasion unterlegen?"
Alleine bei Caen verloren die Briten an einem einzigen Tag fast 200 Panzer. Die Verluste der Infanterie lagen um 80 Prozent höher als vom britischen Oberkommando einkalkuliert. Und auch die Amerikaner stellten erschüttert fest, dass schon kleinere Waffen der deutschen Infanterie den eigenen deutlich überlegen waren, besonders das Maschinengewehr 42 - eine Waffe, durch die sie bereits am "Omaha Beach" hohe Verluste erlitten hatten.
Mythos Luftüberlegenheit
Bislang ist in diesem Zusammenhang immer wieder auf die erdrückende Luftüberlegenheit der Alliierten hingewiesen worden, die Nachteile bei Panzern oder Infanteriewaffen mehr als ausgeglichen habe.
Doch gerade mit diesem Mythos räumen nun Beevor und Lieb endgültig auf: Die Zerstörung von Panzern durch Flugzeuge gelang selten. So zeigten britische Untersuchungen schon nach der Schlacht von Mortain Anfang August 1944, dass nur neun von 46 begutachteten deutschen Panzern und Sturmgeschützen aus der Luft vernichtet worden waren - ein Ergebnis, das sich später beim Zurückschlagen der deutschen Ardennen-Offensive im Januar 1945 wiederholen sollte.
Der damalige Stand alliierter Technik erlaubte es noch nicht, gepanzerte Fahrzeuge zielgenau und in großer Menge durch Flugzeuge zu zerstören. Die Luftüberlegenheit von Amerikanern und Briten erzielte eher indirekt Wirkung: Sie behinderte den Nachschub und die Kommunikation der deutschen Soldaten, schwächte ihre Kampfmoral und Verteidigungsstellungen.
Eine viel stärkere direkte Wirkung im Kampf hatte hingegen die alliierte Artillerie. Allein im Juni und Juli 1944 gingen zwei Millionen Geschosse auf die Deutschen in der Normandie nieder - 35 000 pro Tag, bei einer Frontlänge von maximal 150 Kilometern. Diese Materialschlacht zog sich über Wochen hin in der unübersichtlichen Heckenlandschaft der Normandie, die wie geschaffen war für die deutschen Verteidigungsstellungen.
Eine nach der anderen musste von den Alliierten mühsam und langsam und mit einem gigantischen Einsatz von Mensch und Material überwunden werden. "Ich muss euch nicht sagen, wer den Krieg gewonnen hat. Ihr wisst es. Es war unsere Artillerie", sollte dann auch der amerikanische General Patton bei Kriegsende zitiert werden.
Doch nicht nur auf Seiten der Wehrmacht gab es mit zunehmender Härte und Dauer der Kämpfe starke Ermüdungserscheinungen, die schließlich zum Zusammenbruch der deutschen Normandie-Front nach einer fast dreimonatigen Schlacht führten. Beevor vergleicht sie mit der um Stalingrad, die er wie den Kampf um Berlin 1945 in all seinen grauenhaften Facetten in umfangreichen Werken beschrieben hat.
Auch das alliierte Oberkommando war bald nach Beginn der Operationen in der Normandie mit einem Phänomen konfrontiert, das kaum zum Bild der rasch die deutschen Gegner niederringenden GIs passt, welches das kollektive Gedächtnis bis heute dominiert. Die damalige Realität sah anders aus: Die medizinischen Dienste der amerikanischen Armee sahen sich angesichts der zahlreichen Fälle von Kriegsneurosen überfordert.
Indoktrinierte Waffen-SS gegen alliierte Bürger-Soldaten
Etwa die Hälfte der psychischen Traumata betraf Neuankömmlinge an der Front, die nach weniger als 48 Stunden in den vordersten Linien zusammenbrachen. 30 000 Fälle von "combat exhaustion" waren zu behandeln.
Doch hierbei sollte gleichfalls nicht vergessen werden, was Beevor in Erinnerung ruft: Dass man nämlich von den Bürger-Soldaten einer Demokratie nicht das gleiche Maß an Selbstaufopferung erwarten konnte wie von indoktrinierten Angehörigen der Waffen-SS, die eine Schlüsselrolle in der Schlacht um die Normandie spielten.
Dort setzte Hitler gegen die Alliierten die stärkste Konzentration von SS-Panzerdivisionen ein, die er seit seiner letzten Offensive gegen die Rote Armee bei Kursk 1943 aufgeboten hatte. Dennoch verlor er beide Schlachten schließlich. Der Preis für die alliierten Siege war allerdings nicht ein längster Tag, sondern viele - mit schrecklichen Verlusten auf allen Seiten.
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