Innenpolitik:Pandemie, welche Pandemie?

Lesezeit: 2 min

"Wir haben alle in der Pandemie gelernt, was es bedeutet, aufeinander Rücksicht zu nehmen": Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). (Foto: Kay Nietfeld/picture alliance/dpa)

Im Berliner Politikbetrieb will niemand mehr etwas vom Coronavirus hören.

Von Angelika Slavik, Berlin

Fast sechs Wochen sind vergangen, seitdem Karl Lauterbach den Ärmel eines blauen Adidas-Shirts hochgeschoben und sich vor laufenden Kameras eine Nadel in den Arm hat jagen lassen. Der Bundesgesundheitsminister von der SPD ließ sich Mitte September gegen Corona impfen, zum fünften Mal nun schon. Immerhin sei er vor ein paar Monaten 60 Jahre alt geworden, da gelte für ihn die Empfehlung des Robert-Koch-Instituts (RKI) zur Auffrischungsimpfung, sagte Lauterbach. Er empfehle das allen in seiner Altersgruppe und Menschen mit Vorerkrankungen sowieso. Es gebe übrigens auch die Möglichkeit einer Doppelimpfung, Corona- und Grippeschutz in einem Aufwasch, sehr empfehlenswert.

Seither, so erscheint es, hat von Corona kein Mensch mehr irgendwas gehört, zumindest nicht aus dem Berliner Politikbetrieb. Pandemie, das ist jetzt, so wirkt es, ein Thema von gestern.

Klar ist: Mit diesem Thema lässt sich nichts mehr gewinnen

Denn tatsächlich hat Karl Lauterbach, der seiner Rolle als Deutschlands erster Pandemie-Erklärer ja sogar seine Beförderung ins Ministeramt verdankt, schon bei seiner öffentlichen Impfung signalisiert, dass der Umgang mit dem Coronavirus fortan Sache jeder und jedes Einzelnen sein soll. "Ich glaube, wir haben alle in der Pandemie mittlerweile gelernt, was es bedeutet, aufeinander Rücksicht zu nehmen", sagte Lauterbach da. Und dass er keine verpflichtenden Schutzmaßnahmen für diesen Herbst und den bevorstehenden Winter plane, fügte er unmissverständlich hinzu. Corona, das ist jetzt offiziell Privatsache.

Und auch der neue RKI-Chef, Lars Schaade, schlug bislang betont gelassene Töne an. Es gebe nun eben "ein Virus mehr, als wir es früher hatten", sagte er kurz vor seiner Berufung. Und jüngst ließ er per Interview wissen, er erwarte "eher nicht", dass es in den kommenden Monaten noch mal staatliche Corona-Maßnahmen brauchen werde.

Das Virus wird sich ziemlich anstrengen müssen, wenn es diesen Winter nochmals auf die Agenda des politischen Betriebs kommen will.

Das Berliner Schweigen liegt allerdings nicht ausschließlich daran, dass Corona nun auf eine durch mehrmalige Infektion, Impfung oder beides gut immunisierte Bevölkerung trifft - sondern auch daran, dass es bei diesem Thema nichts mehr zu gewinnen gibt: Drei Pandemiewinter haben Spuren hinterlassen, der Großteil der Bevölkerung will von dem Virus nichts mehr hören. Zudem gibt es mit dem Ukraine-Krieg, dem Konflikt im Nahen Osten und der immer noch ungewohnt hohen Inflation ohnehin schon sehr viele große Krisen, die nicht so leicht ignoriert werden können - und die den Menschen in der Bundesrepublik auf die Stimmung drücken. Corona wieder zu einem großen Thema zu machen, ist in dieser Gemengelage für keine politische Kraft strategisch sinnvoll.

Ob das wirklich so bleibt, ist allerdings längst nicht entschieden. Würde das Virus in ein paar Wochen die Menschen in Deutschland im großen Stil ins Bett zwingen, würden die Arbeitsausfälle für die deutsche Wirtschaft problematisch, dann würde selbst in diesem Corona-müden Land wohl eine Debatte entfacht: Ob Maßnahmen zur Ansteckungsvermeidung nicht doch eine gute Idee gewesen wären. Ob eine Maske unter bestimmten Umständen nicht doch wieder verpflichtend sein sollte. Ob man nicht wenigstens die Home-Office-Regelung wieder einführen sollte.

Bis dahin aber übt sich die Berliner Politik in einer für sie ungewohnten Disziplin: Schweigen.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: