Debatte zu Corona-Lockerungen: Pro:Es ist Zeit für den Streit

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Zahlreiche Besucher sonnen sich im Stadtpark Schöneberg in Berlin. (Foto: dpa)

Erst eine konstruktive Debatte schafft Überzeugung - und diese schafft dann wiederum Solidarität. Dennoch darf nicht jeder die Lage auslegen, wie es ihm passt.

Kommentar von Meredith Haaf

Nicht nur in der Öffentlichkeit gehen die Ansichten stark auseinander, ob die erste Lockerungsphase in der Corona-Krise voreilig eingeleitet wurde oder nicht. Ob in Whatsapp-Gruppen, bei klandestinen Hinterhofplaudereien oder Diskussionen auf Parkbänken - immer häufiger ist allgemeines oder spezifisches Gegrummel zu vernehmen. Den einen geht es zu schnell mit Lockerungen, sie fühlen sich den Forderungen der Wirtschaft geopfert. Andere sind genervt von süddeutscher Total-Vorsicht und rechnen die gewaltigen Nebenkosten des andauernden Verzichts auf Bildung, Gemeinschaft und Konsum aus. So weit, so normal. So gut sogar.

Natürlich war es einfacher, als zu Beginn der Epidemie Bürger und Politiker vereint waren, in Sorge um einander und aus Einsicht in hygienischen Notwendigkeiten. Es war möglicherweise für den Verlauf der Krise entscheidend, dass diese Einigkeit sofort da war und nicht erst mühevoll hergestellt werden musste, wie das in Demokratien sonst der Fall ist. Effektives Krisenmanagement kann nicht gebrauchen, was die Bundeskanzlerin so blumig als "Diskussionsorgie" bezeichnet hat. Doch auch wenn es Gesundheitsexperten und führende Politiker besorgt, dass jetzt debattiert wird, obwohl die Krise voll im Gange ist: Strukturell wird sie gerade zum Normalzustand. Und zur Normalität gehört in einer Demokratie der Streit. Das Leben mit dem Virus hat begonnen, und deswegen ist es Zeit, das Streiten darüber zu üben. Denn es werden sich noch viele Fragen und Probleme ergeben. Etwa wenn, wie bereits geraunt wird, die Schulen noch zwei Jahre nicht normal unterrichten. Auch der Umgang mit Geflüchteten und kommende Finanznöte werden die gesamtgesellschaftliche Streitkompetenz auf die Probe stellen.

Die Polarisierung und die Ungnädigkeit, die jetzt einziehen - Menschenleben gegen Unternehmensexistenzen, Kinderrechte gegen Altenschutz, Epidemiologie gegen Psychiatrie -, dürften manche an das Spaltungsjahr 2015 erinnern. Doch anders als damals argumentieren die meisten Beteiligten heute aus Positionen berechtigter Sorge heraus. Das macht es so schwierig. Denn nicht nur über Geschmack, sondern auch über Gefühle lässt sich schlecht streiten, über negative erst recht. Ängste sind, in Anbetracht der Szenarien, derzeit ziemlich berechtigt, egal ob man viele Corona-Tote, viele geschädigte Kinder oder viele vernichtete Existenzen fürchtet.

Es ist ein gutes Zeichen, dass der Diskussionsbedarf erwacht. Das bedeutet nicht, dass jetzt jeder die Lage für sich auslegen darf, wie es ihm passt. Aber wichtig ist, dass die Bürger bei der Bewältigung dieser Krise mitwirken können - nicht nur in Form von Zuhausebleiberei und Maskenbasteln. Dafür müssen die Institutionen sorgen. Es reicht nicht, wenn die politisch Verantwortlichen den Druck nur aushalten. Sie müssen ihn kanalisieren und in Debatten lenken. Schon reklamieren politische Kräfte am rechten Rand die Freiheitlichkeit für sich. Dem gilt es entgegenzuwirken - nicht nur durch Ansagen und Appelle an die Disziplin, sondern durch Solidarität aus Überzeugung. Sonst entsteht aus der Spannung nicht fruchtbarer Streit, sondern zersetzendes Ressentiment und Widerstand. Die Folgen davon wären viel gefährlicher als jede Diskussionsorgie.

© SZ vom 23.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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