Debatte über Corona-Lockerungen: Contra:Jeder muss sich zurücknehmen

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Die Maskenpflicht wird deutschlandweit kommen. (Foto: dpa)

Es geht jetzt ums Aushalten - und nicht um die diversen Egoismen. Sonst will jeder nur noch sein altes Leben zurück, notfalls auf Kosten anderer Leben.

Kommentar von Constanze von Bullion

Der Chor wird jetzt jede Woche lauter, und er hat die immer gleiche Melodie: Warum dürfen wir nicht, was andere dürfen? Warum dürfen Gläubige wegen der Corona-Krise vielerorts nicht in die Kirche, wenn nebenan die Nachbarn am Baumarkt anstehen? Wieso darf der 800-Quadratmeter-Laden bald wieder öffnen, aber der mit 801 Quadratmetern bleibt dicht? Und was ist gerecht daran, dass Kita-Kinder noch Monate daheim bleiben sollen, während ältere in die Schule zurückkehren dürfen? Nichts ist gerecht daran. Aber darum geht es auch nicht bei der schrittweisen Lockerung der Kontaktbeschränkungen. Es geht jetzt um die Kraft des Aushaltens. Sie schwindet in atemberaubendem Tempo, weil Politiker einem Chor der Egoismen nachgeben.

Keine Frage, die Bekämpfung der Pandemie bringt viele Menschen in schwer erträgliche Lebenslagen. Millionen Arbeitnehmer und Selbständige fürchten um ihre Existenz, mit Grund, wenn das wirtschaftliche Leben noch lange brachliegt. Junge Eltern verzweifeln, weil die Arbeit im Home-Office mit der Beschulung der eigenen Kinder unvereinbar ist. Kontaktsperren für Jugendliche oder fehlende Seelsorge für Vereinsamte - eine Zumutung. Und ja, es muss auch gefragt werden, wie lange Grund- und Versammlungsrechte noch beschnitten werden können, ohne dass die Demokratie Schaden nimmt.

Nur, ums Fragen geht es vielen halt nicht mehr im Disput um die Aufhebung von Kontaktbeschränkungen. Vielmehr kämpfen Deutschlands versammelte Wutbürger inzwischen recht unverfroren ihre Partikularinteressen durch. Die nordrhein-westfälische Möbelindustrie etwa hat so erfolgreich gejammert, dass Ministerpräsident Armin Laschet die Einrichtungshäuser öffnen ließ. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat das Oktoberfest verboten, dafür aber für den 9. Mai wieder Bundesligaspiele in Aussicht gestellt. Jedes Spiel ein Risiko für Spieler und Betreuer und in der Folge auch für Alte und Vorerkrankte im Land. Kümmert offenbar keinen der ambitionierten Herren. Das ist unverantwortlich.

Denn was die Landeschefs im föderalen Kuddelmuddel lostreten, ergießt sich wie eine Kaskade übers ganze Land. Sie treibt auch Innenminister Horst Seehofer vor sich her, der in der Corona-Krise anfangs strikte Disziplin gefordert hatte. Jetzt erwägt sein Haus, Tennis- und Golfspielen wieder zuzulassen. Schließlich komme man sich da nicht so nah. Mit derlei Begründung dürften morgen die Bademeister die Öffnung der Freibäder fordern. Es folgen Tanzlehrer, Fitnesstrainerinnen - und dann kann man den ganzen Rücksichtskladderadatsch ganz lassen.

Jeder will da sein altes Leben zurück, notfalls auf Kosten anderer Leben. Das aber kann nicht die Haltung sein, mit der Deutschland durch eine Jahrhundertkrise geht. Gebraucht werden jetzt Politiker, die den Menschen wieder und wieder sagen, was sie nicht hören wollen: dass es für viele Monate kein "Zurück" geben wird. Dass das Coronavirus Schäden hinterlassen kann, auch am Leben Gesundgebliebener. Sie müssen ausgehalten werden. Denn in der Abwägung, wem zuerst geholfen wird, muss das Gemeinwohl vorgehen. Es sind die Alten und Gefährdeten, also die Angreifbarsten in der Pandemie, deren Schutz Priorität haben muss. Alle anderen müssen warten. Auch wenn's wehtut.

© SZ vom 23.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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